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SALON HERDSCHWAND

Über Mittel und Wege - Lebensmittel zur Diskussion gestellt

Birchermüesli

Am 24. Juni zum Thema "Ein hygienisches Zuchthaus" waren hier: Iris Blum, Sylvia Blum, Daniel Kasztura, Daniela Bühler, Yvonne Nünlist, Adi Blum und Judith Huber (Protokoll). Zum Essen gab es Birchermüesli.

Iris Blum arbeitet im Mühlerama Zürich, wo zur Zeit die Ausstellung "voll flockig" zu sehen ist. "voll flockig" handelt vom Müesli bis zu Functional-Food. Mit einem pädagogischen Workshop sollen Kinder über gesunde Ernährung aufgeklärt werden. Jedes fünfte Kind in der Schweiz ist übergewichtig. Iris Blum wurde angefragt, weil sie sich unter anderem mit dem aus Herisau kommenden Lebensreformer Ernst Ulrich Buff (1873-1931) befasst hat.

Iris packte als erstes zwei abgepackte Fertigmüesli aus. Das eine hell, das andere dunkel. Beide nennen wir Birchermüesli. Auf dem Birchermüesli - Rezept gibt es kein Patent. Es gibt also ganz verschiedene Variationen. Das von Bircher- Benner entwickelte Original-Rezept geht so:

1 Essl. Haferflocken
3 Essl. Wasser (Haferflocken werden 12 Stunden eingeweicht)
1 Essl. Zitronensaft
1 Essl. Gezuckerte Kondensmilch
2-3 Äpfel
1 Essl. Haselnüsse, gerieben

Kondensierte süsse Milch und Zitronensaft werden zu den Haferflocken gemischt, dann werden die Äpfel mit Haut und Gehäuse und Kernen auf dem Apfelreibeisen (Bircherraffel) unter kräftigem Druck gerieben und schon während des Reibens, d.h. in öfteren Reibepausen, rasch und gut unter den Brei gemischt. Auf diese Weise wird das Apfelfleisch durch den Brei bedeckt und vor Luftzufuhr geschützt, wodurch das weisse, appetitliche Aussehen der Diätspeise erreicht wird. Die geriebenen Nüsse werden zur Mehrung des Eiweiss- und Fettgehaltes bei Tisch aufgestreut. Aus: Das neue Kochbuch für die Schweizerfrau (1928)

Der Zürcher Arzt, Dr.Maximilian Bircher-Benner (1867-1939) entwickelte vor gut hundert Jahren das originale "Birchermüsli". Er war vom gesundheitlichen Wert vegetarischer Ernährung, insbesondere der Rohkost, überzeugt. Bircher-Benner eröffnete 1904 am Zürichberg das Sanatorium "Lebendige Kraft", in welchem er seine Ideen der Lebensführung - insbesondere die einer strengen "Ordnungstherapie" - praktizierte.

Das Sanatorium entwickelte sich schnell zu einem Mekka der Naturbewussten und beherbergte viele prominente Patientinnen und Patienten. Die Apfeldiätspeise war ein fester Bestandteil des Speiseplans. Alkoholabstinenz, richtiges Kauen, Bewegung im Freien und gesunde Ernährung waren vorgeschrieben. "Ein hygienisches Zuchthaus", befand Thomas Mann. Bircher-Benners Rohkost-Theorien entsprachen dem Zeitgeist des jungen 20. Jahrhunderts. Neben Thomas Mann waren andere bekannte Gäste wie der Musiker Jehudi Menuhin (1916-1999), und der Komponist Wilhelm Furtwängler (1886-1954) regelmässige Gäste.

Offensichtlich war das Gesellige beim Kuren auch ein wichtiger Bestandteil des Aufenthaltes. Man ging in Bädern oder Kliniken auch auf Braut oder Bräutigamschau. Um 1900 boomten Naturärzte. Vor allem Tuberkulosekliniken schossen wie Pilze aus dem Boden. Tuberkulose (Schwindsucht) ist eine chronisch verlaufende Infektionskrankheit, die durch Tröpfcheninfektion übertragen wird. Die Krankheitserreger sind Bakterien: Die Tuberkulose betrifft in erster Linie die Lunge (85 Prozent), über die Blutbahn streuend kann sie aber auch alle anderen Organe im Körper befallen: z.B. Lungenfell, Hirnhäute, Knochen, Harnwege, Verdauungstrakt, Haut. Die Ansteckung erfolgt in der Regel durch die Einatmung infizierter Speicheltröpfchen (Tröpfcheninfektion).

Yvonne erzählt von der Höhenklinik in Ägeri, wo die stark infiszierten PatientInnen isoliert in Zimmern lagen. Der grösste Ansteckungsherd war der Speichel. Die PatientInnen hatten Spucknäpfe neben sich für den Speichel. Dieser war hochansteckend. Der Napf wurde "der blaue Heinrich" genannt.

Rund um die Klinik wurden spezielle Spazierwege angelegt. Zur Kur gehörten tägliche Spaziergänge. Lungenkranke hatten immer Fieber. Fieber war dadurch immer Gesprächsthema. TB ist momentan wieder verbreitet als Krankheit, da die Bakterien immun gegen die Medikamente geworden sind. TB breitet sich gerne aus in unhygienischen Verhältnissen.

Das Pendant zu Bircher-Benner war in Amerika John Harvey Kellogg. Von ihm kommen die Kelloggs Corn Flakes. Bircher-Benner und Kellogg waren Vertreter der moralischen Physiologie. Sie wollten die sozialen Frage, das heisst auch die Gesundheitsfrage, privatisieren. Jede/r ist selber verantwortlich für die eigene Gesundheit. Wenn alle auf ihre Gesundheit schauen, kann die Gesellschaft grundlegend reformiert werden. Es braucht keine Revolution mehr. Dies entsprach in etwa der Philosophie des Monte Verita, wo auch die Entstehung eines "neuen" Menschen propagiert wurde.

Frage von Adi an Iris: War Bircher-Benner apolitisch? Wie hat er sich positioniert gegenüber den Nazis? Iris: Er hat ja auch vom neuen Menschen geträumt. Von der Regeneration der Menschheit gesprochen. Dies geht Richtung Eugenik. Naturheilkundler wurden vom Nationalsozialismus stark instrumentalisiert. Es gab Deckungsgleichheiten. Die Naturheiler kämpften gegen die Schulmedizin und die Nationalsozialisten akzeptierten die Naturheiler. Wenn jemand Jahre lang Aussenseiter ist und plötzlich akzeptiert wird, ist die Freude verständlich.

In Dresden wollten die Deutschen einen Lehrstuhl für Naturheilkunde einrichten, und Bircher-Benner wurde angefragt, ob er diesen übernehmen wolle. Die einen sagen Bircher-Benner habe den Lehrstuhl abgelehnt, die anderen sagen der Lehrstuhl sei gar nie zustande gekommen. Es muss also offen bleiben, wie sich Bircher- Benner entschieden hätte.

Bei Rudolf Steiner z.B. ist Rassismus klar in seinen Schriften ersichtlich. Bei Bircher-Benner nicht. Nazis, Jüdinnen und Juden gaben sich in der Klinik die Hand. Von da her kann man Bircher Benner nicht Nähe zu den Nazis attestieren.

Bezeichnend war auch, das Naturärzte damals nicht wissenschaftsfeindlich eingestellt waren. Sie nutzten die neuesten Techniken für ihre Anliegen. Auch Bircher-Benner hatte Apparate und Maschinen. Sie wollten die Natur künstlich herstellen, sich unabhängig von ihr machen. 1994 wurde die Bircher-Benner Klinik geschlossen.

Im Jahr 2000 kaufte sie die "Zürich Versicherung". Die "Zürich" organisiert dort Weiterbildungskurse. Es hat eine Bibliothek und ein kleines Museum. Viele Akten der Klinik müssen erst noch ausgewertet werden. Es gibt viel Fotomaterial und Berge von Akten. Die Gefahr bei der Aufarbeitung ist, dass Bircher- Benner zum Heiligen gemacht wird. Zum Beispiel, dass er Raucher war, wird gerne verheimlicht.

Wir kommen noch auf zu unsere heutigen Essgewohnheiten zu sprechen: Fettleibigkeit ist sehr verbreitet. Viele haben zu wenig Bewegung und ernähren sich falsch. Vor allem wird viel zuviel Süsses konsumiert. Bei einem fettleibigen Kind ist das Ziel, die Gewohnheit, fünf Mal im Tag etwas Süsses zu sich zu nehmen, auf einmal pro Woche runter zu kriegen. Und Bewegung ist natürlich Thema.

Die alten Kliniken werden mit neuen Inhalten gefüllt. Ein ehemaliges Lungensanatorium in Davos ist heute eine Klinik für fettleibige Kinder. Fettleibigkeit macht Probleme auf der psychische Ebene, aber auch auf der Körperlichen, wie Gelenkprobleme und Diabetes. Altersdiabetes kriegen heute schon Kinder. Sehr viele Lebensmittel, die für Kinder angeboten werden, sind total ungesund.

Sylvia: Vor zwanzig Jahren waren die Äpfel abgepackt. Es wurde gesagt, die Kundschaft wolle das. Die Kundschaft wollte das nicht, sie wurde getrimmt darauf. Ungewohnte Bedürfnisse werden geweckt. Wenn es keine Fertigpodukte geben würde, wäre das Bedürfnis danach nicht so stark.

Frage an Silvia: Was hat sich bei ihren Einkaufsgewohnheiten verändert? Silvia hat schon vor Ende der 60er Jahre wöchentlich ein Paket Biogemüse zugeschickt bekommen. Sie machte sich damals keine gesundheitlichen Überlegungen, sondern nur praktische. Sie war gezwungen Gemüse zu kochen und musste, da es per Post angeliefert wurde, nicht einkaufen gehen. Das es Bio war, war damals nicht wichtig.

Was hat sich sonst noch geändert? Sie wisse heute gar nicht mehr genau, was gerade Saisongemüse sei und was nicht. Sie versuche konsequent zu sein. (Ausser bei den Spargeln, da könne sie nicht widerstehen.)

Adi fragt Iris: Essen wir in zwanzig Jahren wieder gesünder? Iris: Das Birchermüesli gibt es bestimmt noch. Ich will keinen Kulturpessimismus vertreten. Ich staune immer wieder, wie kreativ die Leute sind, um auf Katastrophen zu reagieren. Das Problem wird eher noch zunehmen.

Buchtipp: "Die Moral auf dem Teller" von Albert Wirz, Chronos Verlag. Ein kritisches Buch über Bircher- Benner und Kellogg.
Filmtipp: "The Road to Wellville," nach einem Buch von T.C.Boyle. Bösartige Reportage über Kellogg und sein Sanatorium. Film von Alan Parker (1994).

Wer die Protokolle per E-Mail erhalten will, soll mir die Adresse schicken > alilum@bluewin.ch. Und wer die Protokolle überhaupt nicht mehr erhalten will, soll mir das doch auch mitteilen. Liebe Grüsse Judith
und Adi.


Nächstes Treffen: Freitag, 13. August 04, um 19 Uhr, Herdschwandstr. 7, Emmenbrücke: Vom Haar in der Schokolade.

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