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NAGA

Nachtessen am Gartenweg: Leseabend Utopie

Mit diesem Abend ist die Diskussion um "Utopien" oder ganz allgemein "Zukunft" eröffnet.

Der Abend begann natürlich beim Definieren. Was ist "Utopie"? Was ist "Science Fiction"? Utopie ist der U-topos, der Nicht-Ort. An sich ist der Begriff wertneutral. Es gibt positive und negative Utopien. Genährt von unsrem Wunsch nach Glück, überwiegen natürlich die positiven Utopien: Paradies und Schlaraffenland. Aber mit De Sade, H. G. Wells, Orwell haben wir eine ganze Reihe von Beispielen dunkler Zukunftsvisionen. Der Science Fiction kann durchaus utopischen Charakter haben, ist aber eigentlich Bezeichnung einer Literaturgattung, die aufgrund eines momentanen Wissenstandes (meist technischer Natur) Prognosen wagt. Jules Vernes liess schon Mitte letzten Jahrhunderts den Menschen in einer riesigen Gewehrkugel auf den Mond fliegen, und es war William Gibson, der mit seinem Roman "Neuromancer" den Begriff "Cyberspace" münzte und die Menschen im Netz ihr virtuelles Leben leben liess. Im Gegensatz zum Science Fiction aber möchte die Utopie, vor allem die soziale Utopie, "Leuchtturm-Funktion" übernehmen, d.h. die Richtung weisen, in welche die Gesellschaft sich entwickeln sollte. Sie hat also einen Aufforderungscharakter. Sie fordert auf zur Veränderung der sozialen Gegebenheiten, durch Evolution oder durch Revolution.

Wie will man´s haben, wenn der Wechsel geglückt ist? Hansruedi sieht genau dort das Problem für das Scheitern des Sozialismus. Malten die Frühsozialisten, Fourier und Co, sich die zukünftige Welt noch aus, die Welt der Harmonie, vermied der wissenschaftliche Sozialismus vom Marx und Co, die konkreten Bilder. Auch die Soziologie heute kennt ein solches Bilderverbot. Sie beschränkt sich auf Analyse und Prognose. Das hat natürlich auch Gründe. Claudius sagte, auffällig sei, dass Utopien zur Todesstrafe neigen. Damit der gehüteten "Utopie" nichts passiert, gesellt sich Terror an ihre Seite. Häufig liegt den Utopien tatsächlich ein romantisches, nicht ungefährliches Modell zu Grunde: das des dritten Reiches. Wir waren einst im Paradies (erstes Reich), jetzt sind wir unterwegs (zweites Reich) und werden, wenn wir´s richtig machen, wieder im Paradies ankommen (drittes Reich). Die Assoziation Drittes Reich - Nationalsozialismus kommt nicht von ungefähr.

Fourier und auch p.m., der Zürcher bolo´bolo Utopist, dessen Büchlein in der Zürcher Bewegung der 80er Jahren (Stichwort: Opernhaus) keine unwichtige Rolle gespielt hat, haben daher bei ihren Gesellschaftsentwürfen immer auch das anarchistische Moment dabei. Fourier sagt, dass die Natur das Glück des Menschen vorsehe, dass der Mensch nicht anders könne, als glücklich zu werden. Er müsse daher seinen Leidenschaften, die immer gute seien, freien Lauf lassen. Diese Idee kennt auch p.m., wenn er seine "ibus" frei von ihren Interessen geleitet "bolos" gründen lässt. Bolos sind sich selbstversorgende "Riesen-WGs". So gibt´s dann das Kulturbolo, das Technobolo, das Alkibolo etc. Zur Zeit wird ja in Zürich mit Kraftwerk 1 das erste Bolo realisiert. - Hier der p.m.-Text, den Judith ausgewählt hat:

"So etwas wie Nationen, Völker oder gar Staaten sind nicht vorgesehen und haben auch keinen Zweck. Es gibt nur das weltweite sumi-Patchwork (Patchwork von autonomen Regionen) und eine Menge wechselseitiger Abmachungen zwischen ihnen, dazu das asa´dala (planetare Versammlung) als Treffpunkt. Die Lösung der "nationalen Frage" kann nur in der Auflösung der Nationalstaaten durch die sumis bestehen. Weder ein "Internationalismus" der Staaten noch ein Föderalismus innerhalb von Staaten ist dazu fähig. Staaten erzeugen durch ihre Isolations- und Entladungsschübe nur katastrophale Krampfbewegungen. Sie sind ihrem Wesen nach hierarchische Kriegsapparate, weil sie ihre Funktion dauernd gegeneinander rechtfertigen müssen." (aus p.m. bolo´bolo, verlag paranoia city: Zürich, 1983)

Kein Kommentar. Die Anwesenden waren alle p.m.´s Meinung. Nur Christine meinte dann, dass ganze sei doch völlig unrealistisch. Wer ein bolo gründet, würde sich nur gesellschaftlich isolieren. Adi erzählte, wie es Fourier ergangen war mit seinen Phalansteres (ein Phalanstere ist etwas ganz ähnliches wie ein bolo, nur meinte Fourier, es müssten darin 1 500 Menschen wohnen. Bei p.m. sind es 500). Es seien in den Staaten zahlreiche Phalansteres gegründet worden, die aber jeweils aus zehn im besten Fall fünfzig Leuten bestanden haben. Fourier selber habe sich von diesen Assoziationen distanziert, weil die Grösse des Phalansteres eine kritische Masse überschreiten müsse, damit es funktioniere und eine Vorbildfunktion übernehmen könne. Gäbe es einmal ein einziges funktionierendes Phalanstere, dann würde der Erfolg ihm Recht geben und innert kürzester Zeit würden auf der ganzen Welt weitere Phalansteres gebaut. Bis jetzt ist aber noch nie ein genügend grosses gebaut worden. Hansruedi meinte, dann könne man ja jetzt schauen, ob Kraftwerk 1 eine solche Wirkung erziele...

Zum Abschluss las Christine ihren Text (ich habe ihn ziemlich gekürzt - verzeih mir, Christine!). Er gab Anlass zu einer langer Diskussion, die ich hier aber - anbetracht des Platzes - nicht mehr wiedergebe. Als Überleitung vielleicht noch dies, ein Zitat von Fourier: "Diderot sagt, dass man um einer Frau zu schreiben, seine Feder in den Regenbogen tauchen und sie mit dem Staub der Schmetterlingsflügel bestreuen müsse. Das ist fad. Und was ist das Ergebnis solcher Fadheiten aus Regenbogen und Schmetterling? Männer und Frauen sind die Betrogenen. - Die Erweiterung der Privilegien der Frauen ist die Grundlage allen sozialen Fortschritts."

Liebe Aline!

In diesem Brief werde ich dir Erstaunliches berichten - ich weiss kaum, wo mit Erzählen beginnen und hoffe, dass das Durcheinander nicht allzu gross wird: Ich hab gestern Grossmutter besucht (so nenne ich sie der Einfachheit halber - in Wirklichkeit ist sie natürlich eine Urahnin von mir, die 1860 geboren wurde). Grossmutter lebt alleine in einer kleinen Wohnung. Natürlich hat sie weder Beamer noch Simulator und auch keines unserer gewohnten Haushaltsgeräte ich kann mir kaum vorstellen, wie mit den damaligen Hilfsmitteln ein Haushalt innert nützlicher Zeit erledigt werden konnte: eine kleine Kochnische mit einem Holzherd, ein Tisch und zwei Stühle. Die Stube ist sorgfältig aufgeräumt und obschon alles sehr ärmlich wirkt, finde ich's gemütlich.

Ich fragte sie, ob sie denn nie Lust gehabt habe, etwas für sich ganz alleine zu tun; einen Beruf zu lernen, oder zu studieren - worauf Grossmutter antwortete: "Weisst Du, erstens war das keine Beschäftigung für die armen Leute - woher hätten wir auch das Geld und die Musse dazu nehmen sollen?

Und ausserdem war der barbarische Brauch, die Frauen ohne Bildung aufwachsen zu lassen, bei uns weit verbreitet und überwog so sehr, dass man nun tatsächlich glaubte, die Frauen seien nicht wie die Männer vernunftbegabt, noch zur Verbesserung durch Bildung fähig, obwohl sie es sind. Man betrachtete es als ungeheuerlich, wenn jemand das Gegenteil zu behaupten wagte - ein Studium, oder das Erlernen eines Berufes, war für Frauen undenkbar." Stell Dir vor, Aline! Ich dürfte nicht studieren, nur weil ich zufälligerweise zwei Brüste hab!

Natürlich weiss ich über die binäre Geschlechtereinteilung Bescheid, die damals gemacht wurde - die Menschen bezogen für ihre Definition nur wenige (äusserliche) Merkmale ein: Wer zwei Brüste hatte und ein Kind gebären konnte, war eine Frau; wer einen Penis und einen Bart hatte, war ein Mann. Aus unserer Sicht ist das unverständlich, da unsere physische Beschaffenheit viel komplexer ist - wir benutzen nur noch die Namen, alles andere wäre viel zu kompliziert!

In Anbetracht der damaligen Umstände, mag die binäre Geschlechtertheorie zwar eine gewisse Logik gehabt haben - hätte sich nicht ein Geschlecht ("Mann") über das andere ("Frau") gesetzt und ein einseitiges Machtverhältnis gesetzlich und gesellschaftlich zementiert.

Grossmutter ist um 1900 einem der neu entstandenen Arbeiterinnenverbände beigetreten: mit der Zeit konnten sie viele Verbesserungen für die Frauen durchsetzen: Mutterschaftsgeld, Schutzbestimmungen an den Arbeitsplätzen, Lohnverbesserungen und neue Arbeitsmöglichkeiten. Die Frauen begannen sich zu organisieren, wurden politisch aktiv und kämpften für ihre Rechte. Ich schreib das jetzt so schnell dahin - in Wirklichkeit war das ein unheimlich langsamer, zäher Prozess, der kaum voranzukommen schien. Endlich, gegen Ende des Jahrhunderts, zeichnete sich eine Tendenz zur Auflösung der Geschlechterrollen ab: Es gab immer mehr Menschen, die trans-, homo-, und bisexuell genannt wurden. Andere wiederum waren androgyn, lebten im Konkubinat, waren monogam oder polygam. Frauen liebten Frauen und Männer Männer; Homosexuelle Bisexuelle und Transvestiten Polygame; Frauen Männer und so weiter - diese Zeit wurde "Individualismus' und Postmoderne" genannt.

Die Frau konnte nun selbst über ihr Leben bestimmen, wobei natürlich nicht zu vergessen ist, dass sie diese jahrhundertelang Unterdrückungsgeschichte mitzuschleppen hatte! Bis die Menschen jedoch unseren heutigen Entwicklungsstand erreicht hätten, wären wohl noch Jahrhunderte vergangen! Im Nachhinein bin ich eigentlich ganz froh um den grossen Knall vom 11. August 1999, denn keine Revolution auf einem einzelnen Sektor - und schon gar nicht bloss eine ökonomische - hätte das komplexe System der psychologischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen der Unterdrückung zu durchdringen vermögen! Alles hätte geändert werden müssen: die Art des Denkens, die Art des Regierens, das ganze alltägliche Leben, die damalige Familienstruktur, alles, was zur Arbeit gehörte - der gesamte technisch-wirtschaftliche Komplex -, ja sogar wie sie lachten, liebten und weinten, und schliesslich ihre Träume - all dies hätten sie ändern müssen!

Grossmutter ist über all dem Erzählen müde geworden und während sie in den Schlaf gerutscht ist, hab' ich ihr doch noch was über die Zukunft ins Ohr geflüstert: "Alle und jeder einzelne und individuelle Mensch, der je auf der Welt atmet, ist von Natur aus gleich und gleicher Macht, Würde, Recht über oder unter einander!"

Liebe Aline! Ich freue mich, schon bald wieder bei Dir zu sein - doch ich mich kann mich erst morgen zu Dir beamen, da meine Bits ziemlich aufgebraucht sind; das kannst Du Dir ja vorstellen, nach einem so langen Besuch in der Vergangenheit!

Alles Liebe, Robert.

Wer die Protokolle per e-mail erhalten will, soll mir die Adresse schicken (alilum@bluewin.ch). Und wer die Protokolle nicht mehr erhalten will, soll mir das doch auch mitteilen.


Nächstes Treffen: Freitag, 8. Oktober, um 19 Uhr: Monte Verità

Andreas Schwab hat die Einladung angenommen und wird aus seiner Dissertation über Monte Verita, den "Wahrheitsberg", erzählen.

Beim Leseabend mit Christine Weber waren dabei: Claudia Fischer, Claudius Weber, Hansruedi Hitz, Judith Huber, Adi Blum und Christine Weber. Zum Essen gab es kleine und grosse Griessköpfe, Zwetschgenkompott und halbpreisigen Champagner.


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