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NAGA

Nachtessen am Gartenweg: Abschlussdiskussion "Publikum"

CLAUDIUS. Zum Einstieg den Text von Marcel Duchamp: "Und das bringt mich dazu zu sagen, dass ein Werk vollständig von denjenigen gemacht wird, die es betrachten oder lesen und die es, durch ihren Beifall oder sogar durch ihre Verwerfung überdauern lassen."

JUDITH. Das Publikum hat eine grosse Macht.

CLAUDIUS. Der Kulturelle macht nur einen Teil des Werkes. Den anderen Teil macht der Betrachter. Aber da steht noch das Wort "vollständig".

BRUNO. Das kann man auch psychologisch betrachten: du bist nur das, was du aus den Rückmeldungen der anderen bist. Du bist erst durch den Spiegel der anderen.

ADI. Die Hölle, das sind die anderen...

CLAUDIUS. Das Statement wurde natürlich in einem historischen Kontext geäussert. Es hat Wesentliches dazu beigetragen, wie wir heute an Sachen herangehen, wie wir Sachen als Kunst verstehen.

RALPH. Ich treffe heute häufig die Situation, dass man sich gar keine Meinung macht. Die einen sagen "schönes Werk", die anderen sagen gar nichts. Das Publikum reagiert nicht.

ADI. Wir haben uns ja vorgenommen, das Publikum im Verhältnis zur Gesellschaft zu sehen. Dann geht es ja nicht nur um das Kunstwerk. Zum Beispiel eine Stadt oder eine Firma reden ja auch von ihrem Publikum und wollen publikumswirksam sein.

CLAUDIUS. Die allgemeine Ökonomisierung.

ADI. Das hängt doch mit der Erfindung des Publikums zusammen, mit der Aufteilung der Menschen in Agierende und Betrachter.

HANSRUEDI. Der öffentliche Raum ist etwas Konstruiertes. Der Strassenraum war vom Trottoir nicht getrennt. In einer mittelalterlichen Stadt stellte jeder sein Feierabendbänkchen vors Haus. Jahrzehnte lang kämpften die Stadtväter gegen diese Feierabendbänkchen oder gegen Handwerker, die auf der Strasse arbeiteten. Kutschen fuhren mal links mal rechts. Es war ein langer Prozess zum Rechtsverkehr. Es war ein Zurückdrängen des Privaten aus dem Strassenraum.

ADI. Das geschah doch ganz parallel mit der Errichtung der vierten Wand im Theater, der Abgrenzung von Agierenden und Publikum. Gleichzeitig wurde ein Regelwerk eingeführt, zum Beispiel wer wann zu klatschen hat.

HANSRUEDI. Als sie 1939 am Bellevue die erste Signallichtanlage montierten, mussten sie einen Verkehrspolizisten nebenher stellen, der dafür schaute, dass niemand bei Rot fährt. In Kairo ist es heute noch so.

CLAUDIUS. Mir geht´s aber um das Publikum, das wir heute vorfinden.

ADI. Um die Kundschaft? Um die Gleichgesinnten?

CLAUDIUS. Das Publikum sind Menschen, die ein Ticket kaufen oder im Prinzip ein Ticket kaufen würden. Es sind jene Menschen, die aufgefordert sind zu klatschen...

ADI. Publikum sind jene, die die Agierenden auf der Bühne durch ihre Anwesenheit auffordern, nicht ins Extrem zu gehen...

CLAUDIUS. Mit stiller Sicherheit wendet man den Begriff an. Es gibt Grenzbereiche, zum Beispiel die Teilnahme an echten Ritualen.

BRUNO. Wenn ich dir, Claudius, gerne zuhöre, bin ich dein Publikum. Daher rühren die Regeln, dass die anderen schweigen, wenn jemand gut erzählt.

CLAUDIUS. Stimmt. Wenn ich heute einfach referieren würde, dann hätte ich mein Publikum gehabt.

HANSRUEDI. Publikum heisst doch vom Begriff her einfach Öffentlichkeit.

ADI. Duchamp spricht das Rollenverhältnis zwischen Produzierenden und Rezipierenden an. Das Publikum fordert eine aktive Teilnahme und Entscheidungsfreiheiten. Beim Lesen eines Hypertexts (im Internet) erfindet der Leser den Text. Das Publikum erfindet das Kunstwerk. Das Kunstwerk ermöglicht diesen Prozess.

CLAUDIUS. So wird die Autorenschaft des Künstlers unterlaufen. - Andere Frage: Ist Kulturgeschichte die des Erfolgs oder die der Qualität? Trifft das Publikum die richtige Wahl?

ADI. Kunst will doch Reibung erzeugen. Damit provoziert sie auch Ablehnung.

CLAUDIUS. Das hat sich, glaube ich, in diesem Jahrhundert gewendet. Ablehnung führte zum Erfolg. Nach dem zweiten Weltkrieg, zum Beispiel, belohnte man die Vorkriegs-Avant-Garde, welche zuvor von reaktionären Kräften abgelehnt worden war. Aber das muss nicht mehr so sein. Vielleicht kommen wieder die Mechanismen des 17. Jahrhunderts zum Tragen: Die Nonkonformisten werden vergessen.

HANSRUEDI. Das hat direkt mit den 68ern zu tun. Das sind zyklische Prozesse. In Aufbauphasen (z Bsp. nach dem 2. Weltkrieg) gibt es wenig Abweichlertum. Dann werden die Schwierigkeiten des Fortschritts erkannt. Das war idealtypisch das 68. Es kommt die Phase von Kritik und neuer Suche. Es geht wirtschaftlich abwärts, bis die Zeit für den Aufschwung wieder bereit ist.

CLAUDIUS. Was ist aber denn die Rolle der Kulturellen? Lazlo, ein Wissenschaftler aus dem Umfeld des Club of Rome, sagt folgendes: "Kunst diszipliniert die Phantasie, führt zu neuen Einsichten über die menschliche Natur und die Qualitäten sozialer Beziehungen, gibt Hilfestellung auf der Suche nach Zielen und lenkt menschliches Streben..." Das ist heute nicht mehr so.

HANSRUEDI. Wir haben einen eigentlichen Publikumsboom heute. Ich glaube, dass Sinnstiftung eine Aufgabe der Kultur ist. Im Kulturbereich ist man am nächsten an der Sinnfrage dran. Heute ist Zeit da, viel Zeit - Freizeit.

CLAUDIUS. Hier noch ein Statement. Zola beschreibt die Situation der KünstlerInnen. Eine Momentaufnahme aus dem 19. Jahrhundert (Bätschmann): "Die Künstler sind zum allseitigen aggressiven Wettbewerb gezwungen und dem täglichen Kampf um die Gunst der Massen und um Marktanteile ausgesetzt. Jeder schnappt irgend etwas auf, sucht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und den Käufern etwas anzudrehen."

Zeit für Kaffee. Fenster öffnen. Lockeres Gespräch. Dann die Schreckensminute am Gartenweg. Eine Hornisse fliegt in die Stube. Doch mit Hilfe eines Busfahrplanes konnte sie endlich und heil wieder aus der Stube befördert werden. Die Diskussion ging weiter. - Ich möchte hier die Publikumsdiskussion beenden mit drei persönlichen Statements.

HANSRUEDI (gemütlich im Couch liegend). Ich will als Veranstalter reden. Als Veranstalter habe ich verschiedene Publikümer. Je nachdem, was dargestellt wird, habe ich ein anderes Publikum. Daher stimmt es für mich, das Publikum als Kundschaft zu sehen. Ich veranstalte für ein Publikum. Es liegt mir wenig daran, zum Beispiel, Menschen aus dem Altersheim in ein Punkkonzert zu bringen. Dennoch soll das Dargebotene auch mir persönlich gefallen. Ich will Kultur und Themen, die mir wichtig sind, zum Publikum bringen. Ich komme von der Roten Fabrik her, wo ich Konzeptveranstaltungen gemacht habe. Ich schätze es, wenn nach einer Veranstaltung das Publikum bleibt und diskutiert. In diesem Sinne ist das grosse Publikum meist nicht mein Lieblingspublikum. Eine volle BOA wäre super für mich und die KünstlerInnen, denn vieles würde mehr Aufmerksamkeit verdienen. Es gibt aber auch die Veranstaltungen, bei denen man froh ist, dass nicht zu viele gekommen sind, weil ich sie nicht verantworten möchte (Katze im Sack gekauft, Vermietungen...). Es ist immer etwa möglich, Sachen zu machen, bei denen die Kasse klimpert. Es lässt sich auch mit Kultur Geld verdienen. Nur kommen zu solchen Acts Leute, die ansonsten keinen Bezug zur BOA haben. Mir ist ein Stammpublikum wichtig. Ich würde lieber ein Programm über eine längere Zeitspanne laufen lassen, so dass es sich herumsprechen kann und so ein grosses Publikum anzieht. Es gibt natürlich noch den kulturpolitischen Teil. Es gilt gewissen Programmen eine Chance zu geben. Es gibt Sachen, die an keinem anderen Ort stattfinden könnten oder sollten als in der BOA. Das ist verpflichtend. Da ist nicht nur mein Geschmack bestimmend. Dennoch habe ich meine programmatorischen Freiheiten (seitens der BOA). Dies ist auch der Sinn der Subventionen. Subventionen geben einen gewissen Freiraum. Angesichts des bestehenden Programmangebotes wäre ich froh, die BOA wäre ein bisschen kleiner. Für den Ressort Theater bietet zum Beispiel das Schlachthaus Bern idealere Bedingungen. Es gibt auch programmatorische Schwerpunkte, die ich setze. Ich suche eher das kritische Publikum als das schenkelklopfende. "Heiri hat das Kalb gemetzget" ist nicht ganz meine Sache. Dann muss auch die Grösse der Produktion dem Haus entsprechen. Einmann- oder Einfrausachen gehören zum Beispiel eher ins Kleintheater.

JUDITH. Meine Bilder und Video mache ich nicht fürs Massenpublikum. Ich bin ja selber auch Publikum. Ich stehe auf beiden Seiten. Ich halte es da mit Franz Müller, der für einen Anlass alle Franz Müller des Kantons eingeladen hat, und das waren nicht wenige. In diesem Sinne bin ich eine Mitpublikumistin. Ich habe lieber ein kleines interessiertes Publikum, das sich mit den Arbeiten auseinandersetzt. Bei Massen werde ich skeptisch. Etwas stimmt da nicht. Gut, als Veranstalterin, etwa bei "Cadavre Exquis" wünschte ich mir auch mehr BesucherInnen. Aber ich meine, Erfolg, der auf Qualität begründet ist, kann man nicht zehn oder zwanzig Mal wiederholen. Plötzlich geht es nicht mehr um die Sache, sondern um den Erfolg selbst. Schlussendlich ist es eine politische Skepsis. Ich glaube nicht an das, was die grosse Masse glaubt. Kommerzialität (im bildenden Bereich) schreckt mich ab. Bei der Musik ist es vielleicht ein bisschen anders. Viele Leute können sich nicht auf dasselbe konzentrieren, auf diese Rhäzünserflasche zum Beispiel. Ein Schuhmacher beschäftigt sich nicht mit der Ästhetik dieser Rhäzünserflasche. Da ist ein Interessenkonflikt. Wie kann sich ganz Luzern plötzlich für diese Rhäzünserflasche interessieren? Bei meinen Bildern geht es um mich. Ich interessiere mich nicht fürs Publikum. Bei der Performance hingegen überlege ich mir das Publikum, wie es sich verhalten wird. Vom Wunsch her möchte ich Leute, die ich kenne. Es ergeben sich dann immer wieder neue Bekanntschaften. Kennen und Kennenlernen. Die Anonymität interessiert mich nicht und ich will auch nicht von einem anonymen Publikum abhängig sein.

CLAUDIUS. Man kann ein Publikum ganz lange auf eine leere Leinwand starren lassen. Das hat einen erzieherischen Aspekt. Aber das Publikum heute schert sich einen Teufel darum. Als Teenager verspürte ich den Gruppenzwang. Innerhalb eines Haufens Intellektueller oder Szenenmenschen hiess es: Das ist cool. Eine innere Stimme sagte mir: Das ist LANGWEILIG. Aber ich meinte, ich müsse das begreifen. Ich habe das durchlitten. Aber die anhaltende Wiederholung und das Durchleiden haben mich viel gelehrt. Das genaue Hinschauen hat mein Kulturverständnis geprägt. Aber wie ist das heute? Das passt nicht mehr in die Zeit. Das könnte ich niemandem mehr zumuten. Das war damals. Heute ist anderes notwendig. Es gibt auch das andere Extrem. Wenn Künstler sagen, das Publikum muss von der dritten Minute an gefesselt sein, sonst funktioniert´s nicht, dann ist das ebenso behämmert. Man darf dem Publikum nicht ins Arsch kriechen.

Wer die Protokolle per e-mail erhalten will, soll mir die Adresse schicken (alilum@bluewin.ch). Und wer die Protokolle nicht mehr erhalten will, soll mir das doch auch mitteilen.


Nächstes Treffen: Freitag, 10. September, um 19 Uhr: ein utopischer Leseabend

Das Programm der Nachtessen entwickelt sich immer in rollender Planung. Um das Thema Zukunft vorzubereiten, schlage ich vor, dass wer Lust hat zu kommen einen Lesetext zum Thema mitnimmt.

Bei der Abschlussdiskussion "Publikum" dabei waren Claudius Weber, Hansruedi Hitz, Judith Huber, Bruno Zihlmann, Adi Blum und Ralph Hauswirth. Claudius Weber hat einige Statements zum Thema mitgebracht, die den roten Faden durch die Diskussion bildeten. Zum Essen gab es Pasta an Zucchettisauce.


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