Auf den Schwingen der schönen Schrift

von Hans-Jost Frey

 

<Abstract>

„Die Erfahrung des Lesens ist keine des Verstehens.“ Dieser Befund gilt auch für den Vortrag. Was eine Vortragender zuhause niederschreibt, liest er einem Publikum vor. Er inszeniert also, was er sagen, mitteilen will. Dem gegenüber steht das freie Sprechen, Vor-Sprechen, das einen Gedanken behutsam zu entwickeln versucht und so das - im Wortsinne - Nach-Denken auf Seiten der Zuhörerschaft erlaubt. Vorlesen und Vorsprechen stehen zueinander in einem vergleichbaren Verhältnis wie das Schreiben und das Lesen von Literatur.

Sprechen / Lesen ist gerne sprachvergessen, in ihrem Fluss bleiben Wörter und Sätze unverstanden; denn Verständnis baut zwar auf Lesen auf, doch  ist esnicht zwangsläufiges Resultat dessen. Es gibt ein elementares Lesen, das dem Verstehen vorausgeht, den Wortlaut, das signifiant wahrnimmt, losgelöst von der Bedeutung, dem signifié. Diese „befreite“ Lesen klammert das Vorwissen aus, mit ihm das Verstehenwollen.
Solches Lesen geschieht in der abenteuerlichen Offenheit des Nicht-Verstehens. Ein gelesener Text kann offen bleiben, indem er mehrere Möglichkeiten zugleich anbietet, viele Wege einschlägt. Mallarmés Poesie bietet ein Beispiel dafür (ein anderes ist der Hypertext). Es muss demnach unterschieden werden zwischen einem synthetisch-poetischen Lesen und einem analytisch-terminologischen Lesen; ersteres erfordert Zerstreuung, letzteres Konzentration. Im sinnlichen Rausch des lauten Lesens ergibt sich der Lesende erst recht: er öffnet sich für die Substruktur eines Textes.

Vorlesen und Vorsprechen evozieren unterschiedliches Verstehen: Der frei Sprechende demonstriert seine Präsenz und bietet gleichsam Garantie für das Gesagte, er steht dazu; der Vorlesende dagegen ist abwesend, das Wort trennt sich von ihm ab, verselbständigt zielt es auf das Gemeinte. Statt des Wortlauts rückt der Kontext ins Zentrum. Lesen ist stabil in der Zeit, von Dauer und situativ ungebunden; Sprechen ist ephemer und abhängig von der gegenwärtigen Situation.
Der Übergang vom Gesagten zum Gemeinten ist das Verstehen. Die Schwierigkeit resultiert daraus, dass Gesagtes und Gemeintes nur selten mühelos zusammenfallen - und wenn dennoch Einverständnis erzielt wird, bleibt das Gemeinte unausgesprochen vieldeutig. Im Unterschied zur Literatur, die Gesagtes und Gemeintes in Offenheit zueinander belässt, strebt das Gesetz die völlige Deckung an.

Vergleichbar der Diskrepanz zwischen Vorlesen und Vorsprechen unterscheiden sich analytisches und poetisches Lesen. Analytisch steht für Linearität, Poesie für eine Verräumlichung. Sie entbirgt gleichsam die Zukunft eines Textes, die Materialität der Wörter:   Rhythmus und Klang sind elementare Bestandteile davon. Dies verführt zur These: Schrifttexte sollen auf jede Weise gelesen werden, so wie es der WORTLAUT zulässt. Und: Alle Deutung ist erlaubt, wenn sie sich durch das Gesagte belegen lässt.

Poesie weist über die mimetische Wiedergabe von Wirklichkeit hinaus, sie ist abhängig vom Wie des Gesagten: c’est le ton qui fait la musique. Darin ist sie der Werbung verwandt, die mit vergleichbaren Mitteln arbeitet. Emotionalität ist wichtiger als Inhalt. Allerdings verfolgen Poesie und Werbung unterschiedliche Absichten. Literatur warnt vor dem Realbezug, wogegen die Werbung das Reale anpreist und über die Sprache hinausweist, indem  Waren oder Handlungsweisen angepriesen werden. Ähnlich der Werbung verfolgt auch der Fanatismus derartige Strategien.

Was ist der Wortlaut ohne Sinn? Reine Materialität: Typen, Wortfolgen, Klänge. Im Prozess der Interpretation wird er kontextualisiert: logisch abgetastet, doch mit Misstrauen und Skepsis. Lautes Lesen macht den Text zuerst sprechen, bevor er zum Lesenden spricht.
Die Deutung eines Textes, literarischen vorzugsweise, gleicht dem Akt des Übersetzens. Eine lautliche und eine inhaltliche Ebene werden aus dem Text in mein Verständnis davon übertragen: analytisch und synthetisch, kontextuell und wortlautlich.

 

Im Band "LESEN UND SCHREIBEN" (Urs Engeler Editor 1998) reflektiert Hans-Jost Frey über diese beiden Handlungen,  indem er behutsam die ihnen  zugrunde liegende Haltung ergründet. Sein in kurze Kapitel unterteilter Text zeichnet sich durch eine Einfachheit und Klarheit aus, die ganz ohne theoretischen respektive terminologischen Ballast auskommt. Es geht Frey nicht darum, eine neue Theorie zu begründen, schreibend versucht er sich lediglich darüber klar zu werden, was im Vorgang des Lesens und Schreibens - zwei sich bedingender Handlungen - vor sich geht. Gesagtes und Gemeintes sind nie zweifelsfrei miteinander verbunden, zwischen ihnen steht das spielerische Eigenleben des Textes: „Literatur verkündet nicht, sie erkundet.“

(bm)

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