DAS KULTURKABINETT



Protokoll vom 21. und 29. August 97

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Nachtessen am Gartenweg

Nach dem achten und neunten zusammenstoss hier eine kurze Zusammenfassung der Abende vom 21. und 29. August und eine Einladung für das Essen vom Freitag, 19. September, 20.15 am Gartenweg 6. Am 21. August waren da: Urs Zürcher, Rafael Iten, Michael Wolf, Paola Di Valentino, Adi Blum und Judith Huber. Zu essen gab es Aufschnitt, Käse und Gnagis.

Ein Monsterabend. Missgebildete kleine Kinder in grossen Formaldehydgläsern. Eine Frau mit einem Elefantenfuss. Nagasaki. Die Themen waren vielfältig. Wir beschauten die Bilder: ABNORMITÄTEN: Signor Saltarino. Düsseldorf. Verlag Ed. Lintz; 1900. Urs Zürcher erzählte uns von seiner Liz-Arbeit: Die Lehre von den Missbildungen oder die Inszenierung der biologischen Normalität. Werden heute weniger missgebildete Menschen geboren als früher? Noch in den 70er Jahren wurde ein einäugiger Zyklon geboren, erzählte Urs Zürcher. Wir lassen heute stark missgebildete Menschen gar nicht erst zur Welt kommen. Ist durch pränatale Diagnostik eine grosse Missbildung festgestellt (die ersten 30 Tage der Schwangerschaft sind hierfür entscheidend), wird meist eine Abtreibung eingeleitet. Also weniger Missbildung heute...

Sind Verkrüppelungen schlimm, werden die Kinder totgeboren. Doch es gibt lebensfähige Kinder mit vier Armen, Kinder mit elastischer Haut oder Kinder, die irgendwo am Körper angewachsene Zähne haben. Die Teratologie ist die Wissenschaft der Missbildungen. Sie entstand letztes Jahrhundert und machte Missbildungen "messbar". Früher erklärte man sich Totgeburten oder Missbildungen bei Kinder etwa durch ein Versehen. Eine Schwangere sieht eine Hinrichtung. Ihr Kind wird totgeboren. Eine Schwangere wird von einem Schwein erschreckt. Ihr Kind kommt mit einem Schwanz zur Welt. Die Teratologie löste den Aberglauben ab. Nicht zu Verwechseln ist sie mit der Eugenie, die sich eher um die "Gesundheit" der Menschen"kümmert".

Es gibt Schwanzmenschen. Es gibt Haarmenschen. Wo sind denn die Grenzen zwischen Tier und Mensch? Sind die Wilden weniger menschlich als die Zivilisierten? Carus entwickelte ein Mass, mit dem man die Normalheit eines Körpers messen konnte. Eine Buschfrau weicht um so und so viel vom Mass des Normalen ab. Paola wusste, dass es auf Gran Canaria Einheimische gibt, die dem deutschen Ideal entsprechen. Auch in Indien gibt es Leute, die sind gross, schlank und blond. Da man nun die Teratologie hatte, hatte man auch eine Begrifflichkeit mit der man Aussagen machen konnte. In den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts begann man das Gewicht von Schädeln zu messen, um einen Massstab für Intelligenz zu bekommen. Teratologie und Rassendenken, eine grässliche Mischung, die mitgeholfen hat, den Holocaust zu rechtfertigen, Massenmord zu legitimieren. Urs formulierte, dass der heutige Rassismus eine Produkt des letzten Jahrhunderts ist, von der Wissenschaft hergestellt. Hierzu hat die Teratologie ihren Beitrag geleistet. Im Musee de l'homme in Paris waren bis vor kurzem noch Vertreter verschiedener Rassen ausgestopft im Museum zu bewundern...

Missbildungen haben eine Faszination. Man kann nicht anders als hinschauen. Wenn ein Körper zwei Köpfe hat, reissen sich fast alle darum, das zu sehen. Es löst einen Schauder aus. Man will es nur aus der Ferne sehen. Die Teratologie holte das fremdartig Schauerliche in die Stube und sezierte es dort. Man sammelte. Der Vater gab seinem Sohn den Auftrag, ihn nach seinem Tode zu sezieren, um in ihm die 13. Rippe zu suchen und zu finden. Man war daran, den Schauder zu überwinden. Was früher als ein göttliches Zeichen interpretiert worden war, ging über in die Domäne des Menschlichen. Mary Shelleys Frankenstein kann als ein Plädoyer gegen den alten Schauder - für die wissenschaftliche Zerlegung gelesen werden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Ärzte ständig auf der Suche nach Leichen; es gab interkantonale Abkommen über die Auslieferung der Leichen von Verbrecher und Heimatlosen.

"Kommt und seht, wie dieser Mann auf diesem Anatomietisch seine Körperhülle ablegt, und wie wir mit unseren eigenen Augen unser seltsam geformtes, fragiles und erbärmliches Sein sehen und deswegen den allmächtigen Gott anflehen, dass er uns eines Tages eine unvergängliche Hülle geben wird, die ohne Makel ist und nicht verderben kann." (Aus: "Die Repräsentation des Körpers" in "Die Zukunft des Körpers I" Philip J Sampson; Kunstforum Bd. 132, Nov. - Jan. 96)

Was Vesal früher öffentlich (er hat die erste öffentliche Sezierung gemacht) mit einer Aura von Metaphysik zelebriert hat, das Aufschneiden des Körpers, wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr zur wissenschaftlichen Routine. Ein zu Tode verurteilter Verbrecher liess sich millimeterfein scheibeln und einfrieren. Seine Adresse ist jetzt im Internet (Wer weiss sie??) und man kann ihn dort von zu Hause aus sezieren (TAGI MAGI vor einem Jahr). - Eine Liebesszene mit einem Skelett. "Was du bist, das war ich. Was du wirst, das bin ich."

Wie kam Urs Zürcher zu diesem Thema? Er hat entdeckt, dass es in den 30er Jahren eine enorme Zunahme von Werwolfgeschichten gegeben hat. Diesem Phänomen auf die Spur zu kommen, war seine Absicht - dies führte ihn immer tiefer in die "Metamorphosen" des menschlichen Körpers. - Werwölfe, Saurier, King Kongs: etwas bleibt den Filmen gemein. Es misslingt dem Menschen, wenn er versucht, die Monsters (die wilde Natur), zu zähmen.

Werden heute weniger missgebildete Menschen geboren als früher? Zwar lassen wir heute - durch pränatale Diagnostik - stark missgebildete Menschen gar nicht erst zur Welt kommen. Auf eine Frau, die vor der Geburt gar keine Abklärungen machen will, wird sozialen Druck gemacht: es sei unverantwortlich, etwa ein mongoloides Kind auf die Welt zu stellen. Man sagt, in anderen Kulturen werden missgebildete Kinder über die Klippen geworfen. Dennoch in Vietnam - als Folgeerscheinung des amerikanischen Krieges - gibt es Kliniken, die Abteilungen für siamesische Zwillinge führen. Tschernobyl zeigt heute seine Wirkung. Die Kaderleute, die in der Wüste von Nevada in den 50er und 60er A-Tests durchführten, sind nicht mehr am Leben.

Von einer Menschheit zu träumen, die nicht durch missgebildete Menschen "belastet" wird (so hört man: Behinderte sind eine finanzielle Belastung (!!) für unsere Gesellschaft), ist absurd und am Menschen vorbei geträumt. "Ich wäre nicht hier, wenn meine Mutter pränatale Diagnostik gemacht hätte," sagt eine Frau, die ohne Arme und Beine auf die Welt gekommen ist. - In Jamaika werden Missgebildete vergöttert, bei uns versucht man sie, aus der Welt zu schaffen. Vielleicht wäre es sinnvoll, sie zu respektieren, wie sie sind, nicht mehr und nicht weniger.

Am 29. August spielte in Bern Meinwärts von Raimund Hoghe anlässlich der Berner Tanztage zum Thema KUNSTSTÜCKKÖRPER, Behinderten-Tanz gegen künstliche Körperideale. Es waren da: Guy Krneta, Judith Albisser, Adi Blum und Judith Huber.

Meinwärts, wie es im Programm steht, ist eine Hommage an den Tenor Joseph Schmidt, der in den 20er und 30er Jahren einen kometenhaften Erfolg feierte und, von den Nazis verfolgt, 1942 in einem Internierungslager in der Schweiz starb.

Raimund Hoghes Auftritt - da waren wir uns einig - war eher enttäuschend. Er bewegte sich ziemlich "unbeseelt" und seine Aktionen waren teilweise recht unsorgfältig gestaltet.

Programmänderung: Für Freitag den 19. September bereitet Judith Huber LABAN vor. Wie wir thematisch dranbleiben, möchte ich am Abend selbst besprechen. - Ich werde nach jedem Treffen ein Protokoll verschicken (wer sein Interesse an der Diskussion verloren hat, soll mir doch das sagen und ich werde nichts mehr schicken!) Ich lege jeweils eine ausgearbeitete Adressliste bei. Mit lieben Grüssen. Adi.