DAS KULTURKABINETT



Protokoll vom 8. August 97

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Nachtessen am Gartenweg

Nach dem siebten zusammenstoss hier eine kurze Zusammenfassung des Abends vom 8. August und eine ausserordentliche Einladung für das Essen vom Donnerstag, 21. August, 19.15 am Gartenweg 6. An diesem Abend kann Urs Zürcher da sein. Ich hoffe trotz der Kurzfristigkeit (das ist dieser Donnerstag!), kann die eine oder der andere an diesem Abend los.

Urs hat seine Liz-Arbeit zu einem sehr körperlichen Thema geschrieben: Zürcher, Urs. Die Lehre von den Missbildungen oder die Inszenierung der biologischen Normalität. Liz. Arbeit an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel; 1995. An diesem Abend könnte sich ein sehr spannendes Gespräch entwickeln.

Hier aber auch eine Einladung zum all-drei-wöchentlichen Treffen vom Freitag, 29. August, 11. Berner Tanztage. An diesem Abend spielt in Bern "Meinwärts" von Raimund Hoghe anlässlich der Berner Tanztage zum Thema KUNSTSTÜCKKÖRPER, Behinderten-Tanz gegen künstliche Körperideale.

Hier ein Text zum Stück: "Raimund Hoghe, zehn Jahre lang Dramaturg bei Pina Bauschs Wuppertaler Tanztheater, inszeniert seit 1990 eigene Stücke. "Meinwärts" ist eine Hommage an den Tenor Joseph Schmidt, der in den 20er und 30er Jahren einen kometenhaften Erfolg feierte und, von den Nazis verfolgt, 1942 in einem Internierungslager in der Schweiz starb. Mit Schmidt verbindet Hoghe seine Kleinwüchsigkeit: 1,54 m. Doch es ist nicht nur die eigene Biographie, die Hoghe mit der von Schmidt verwebt - er ruft alle diejenigen in Erinnerung, die für die Nazis zu kurz, zu hässlich, zu jüdisch oder zu schwul waren, spricht auch von Neonazis in Deutschland und Fremdenhass heute, erinnert an andere, die vor ihrer Zeit starben: Freunde mit Aids. Das Werk ist dennoch nicht sentimental, sondern eines, das in seiner Schlichtheit und Zurückhaltung bewegt und in Erinnerung bleibt". (Homepage der 11. Berner Tanztage).

Das Stück beginnt um 20.15 und spielt in der Dampfzentrale.

Am 8. August waren da: Daniela Bühler, Judith Huber, Peter Troxler, Adi Blum, Edgar Frey, Ingrid Lechner, Daniel Kasztura, Claudia Fischer und Alexandra Frosio. Zu essen gab es Reissalate und Grapefruit-Avocadosalat.

Wir sagten, dass das Treffen aus verschiedenen "kleineren" Beiträgen bestehen werde. Doch das zeigte sich als illusionär. Edgar hatte Infokarten über Jerzy Grotowski vorbereitet, und die beschäftigten uns einen Abend lang.

Edgar stellte uns Grotowski vor. Er war ein Stanislawsky Schüler, und begründete wie dieser (und B. Brecht) eine fürs 20. Jahrhundert neue Form von Schauspieltraining. Sein Theater der dreizehn Reihen (1959-1962) und sein Laboratory Theatre (19621984) revolutionierten die darstellende Kunst. Viele aktuelle KünstlerInnen und KünstlerInnengruppen beziehen sich auf ihn: Living Theatre, Brooks, Tabori...

Edgar teilte Karten aus und in Einer-, Zweier- und Dreiergruppen wurden Texte von Barbara Schwerin van Krosigk über Grotowski diskutiert. Sie stammten alle aus ihrem Buch Der nackte Schauspieler (Berlin: publica; 1986). Nach einer halben Stunde trafen wir uns wieder am Tisch.

Edgar eröffnete die Diskussion mit der Frage: Warum Kunst? Und gab die Grotowski-Antwort: Kunst ist Selbstverwirklichung. Es gilt zu lernen, die persönliche Maske abzureissen und über sich hinaus zu gehen. Daniel, Judith und Claudia präsentierten ihre Zusammenfassung. Es geht bei Grotowskis Methode darum, sich selber zu sein und gleichzeitig die Kommunikation nicht zu vergessen (Spielen ist ehrlich und nichts künstliches). So fordert Grotowski auf, gegen den Zeitgeist zu arbeiten.

Damit der Künstler, die Künstlerin, nicht in der Introvertiertheit endet, gibt es Techniken und Rituale. Hier ergänzte Edgar: der Mensch in seiner Intimität ist einer der letzten unserer Tempel. Grotowski spricht vom nackten und heiligen Schauspieler. Die Nacktheit - so Ingrid sei nicht wörtlich gemeint: sie heisse, an die Grenzen gehen, losgelöst sein, keine Widerstände haben. Man entkleidet sich innerlich, um authentisch zu sein. Das Theater solle nicht darstellen (auf Wirkung aus sein), sondern einfach sein. Grotowski hierzu: die Frage, die es zu stellen gibt, lautet: What do you do? und nicht: What are your views?

Peter fand die Angelegenheit schon ziemlich esoterisch. Handelt es sich bei Grotowski um eine Schauspielmethode oder eine Lebensphilosophie? Er zitierte Grotowski: "Am I talking about a form of life, a kind of existence, rather than theatre? Undoubtedly." Von verschiedenen Seiten wurde der Wunsch wach, konkrete Grotowski-Übungen zu sehen - zu machen.

Die Karte die Adi und Edgar vorbereitet hatten, zielte zwar auf die Übungen ab, boten aber trotzdem nur Theorie. Der Körper bildet die Struktur , die persönliche Auseinandersetzung motiviert den Akt. Der Spieler muss über das Körperliche hinaus gehen. So kann er gegen den Körper, der für Grotowski "in der Falle" steckt ankämpfen. Disziplin und Spontaneität sind zwei Felder, die voneinander abhängig sind. Die Wechselwirkung zwischen beiden, gibt eine spannungsreiche Darstellung. Ziel der Übung: der totale Akt.

Adi mochte diesen Begriff nicht leiden. Es erinnert an "Totalitäres". Wenn ein Mensch sich nun für das interessiert, was jemand tut (What do you do?) und sich für seine Ansichten nicht interessiert (What are your views?), dann bleibt doch ein schaler Beigeschmack. Die Reflexion bleibt auf der Strecke. Doch dies ist auch von einer anderen Seite her zu betrachten: der total Akt heisst totale Erfahrung, "ganzheitlich". Hier kam ein wichtiger Aspekt von Alexandra: Grotowski bezeichnet Erinnerungen als körperliche Reaktionen. Es gilt fürs Spiel den Intellekt auszuschalten und dem Körper zu vertrauen. Deshalb auch die berechtigten Grotowski Extremleistungen: drei Stunden joggen, dann spielen. Körperliche Ausgepumptheit kann helfen, ohne Widerstand agieren zu können - Kontrolle verlieren. Dann fallen die Masken und es gibt die besten theatralischen Momente. - Eine Nachtwanderung und es wird nur der Text des Stücks gesprochen - eine Nacht lang in einem Sarg liegen...

Ingrid brachte die Feldenkreismethode ins Gespräch. Feldenkreis befreit Bewegungsdefizite, indem seine Methode die Patienten an körpereigene Bewegungsmuster, die "verdeckt" sind, erinnert. Die Alexandertechnik hat das selbe Ziel: man soll sich bewegen können, wie man sich bewegen will. Sie geht jedoch von Selbstbeobachtung aus. Grotowski war auch ein Kind seiner Zeit. Seine Forderung (und zwar nicht nur seine, da waren die Surrealisten und viele andere) Kunst und Leben miteinander zu verbinden, d.h. auf der Bühne authentisch zu sein, wird heute von vielen Schulen gelehrt und von vielen KünstlerInnen praktiziert.

Was sind denn die Forderungen, die aktuell sind? Heute gäbe es so viele Strömungen, meinte Judith. Aber das gab es zu jeder Zeit. Erst mit zeitlichem Abstand kann man (kunstgeschichtliche) Klarheit in den Dschungel der Vergangenheit bringen. Im Heute ist man immer im Sumpf. Wahrscheinlich wäre es hilfreich gewesen, einen Text von Grotowski selber zu haben oder konkretes Material vor sich zu haben: Übungen, Videos... So hätte die Diskussion auch konkreter an unserem Thema KÖRPER anknüpfen können. So war man gezwungen, sich ein Bild von einem Bild von Grotowski zu machen, und ob dieser Aufgabe blieb fast die eigene Phantasie auf der Strecke. Für mich zählt eigentlich immer noch der Gedanke: Nicht vom Gedachten - sondern vom Denkbaren ausgehen.

Judith H. bleibt an LABAN dran. Für ein späteres Treffen hat Daniela die Diskussion der Postfeministin Camille Paglia vor. Dies schlösse an Laquer und unsere "Geschlechterkampf"-Diskussion an. Peter Troxler bringt am 19. September Material zu Meyerholds BIOMECHANIK mit. Wer Zeit hat kann sich ja schon im vorbereiten: Jörg Bochow. Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin: Alexander Verlag; 1997.

Ich werde nach jedem Treffen ein Protokoll verschicken (wer sein Interesse an der Diskussion verloren hat, soll mir doch das sagen und ich werde nichts mehr schicken!) Ich lege jeweils eine ausgearbeitete Adressliste bei. Mit lieben Grüssen Adi.