DAS KULTURKABINETT



Protokoll vom 18. Juli 97

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Nachtessen am Gartenweg

Nach dem sechsten zusammenstoss hier eine kurze Zusammenfassung des Abends vom 18. Juli und eine Einladung für das Essen vom Freitag, 8. August, 19.30 am Gartenweg 6. Es waren da: Daniela Bühler, Judith Huber, Judith Albisser, Peter Troxler, Adi Blum, Edgar Frey, Michael Wolf , Erich Wyss, Ingrid Lechner, Eckart Bieri und Guy Krneta. Zu essen gab es in Öl gedämpfte Auberginenplätzchen mit Beilage.

Daniela Bühler hat für dieses Treffen eine Thesenliste vorbereitet (Beilage): Thomas Laqueur. Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. München: dtv, 1996. Daniela fasste die Grundthese Laqueurs zusammen: Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern war bis zur Aufklärung durch das "Ein-Geschlechter-Modell" geprägt. Erst dann entwickelte sich das auch heute geltende "Zwei-Geschlechter-Modell".

Galen (2. Jh. n Chr.), der Begründer der Säftelehre sah die Frau als einen "umgekehrten" Mann. Was beim Mann nach Aussen sichtbar ist, ist bei der Frau nach innen gestülpt, auf Grund von fehlender Hitze nicht ganz entwickelt (wie die blinden Augen eines Maulwurfs). Der Mann stand also als "Grundtypus" im hierarchischen Modell des Universums eine Stufe höher als die Frau, welche einfach ein "mangelhafter" Mann ist. Für die männlichen wie auch für die weiblichen Geschlechtsorgane wurden die selben - männlichen - Begriffe verwendet.

Ein Disput erregte die Gemüter: ein junger Mann, der Totenwache bei einer scheintoten Frau halten muss, "beschläft" diese und sie, wieder zum "Leben" erweckt, ist schwanger. Unmöglich! sagen die Anhänger des Ein-Geschlechter-Modells. Der Mann braucht zu einem Samenerguss einen Orgasmus. So auch die Frau: sie braucht einen Orgasmus zur Empfängnis. Anders die Aufklärer: die Frau kann auch passiv empfangen, da sie anders ist als der Mann. Die aufklärerischen Ärzte setzten sich mit ihrer Interpretation durch. "In der Auffassung von der Frau trat eine Anatomie und Physiologie der Unvergleichlichkeit an die Stelle einer Metaphysik der Hierarchie". (Laqueur p 17f)

Nun der Ansatz Laqueurs: er unterscheidet bei der Beschreibung der Geschlechter zwischen sex und gender. Sex ist für ihn, was wir als biologisches Geschlecht bezeichnen würden. Gender ist das kulturelle Geschlecht, ein Produkt soziokultureller und politischer Auseinandersetzung. Nun geht er einen Schritt weiter, indem er sagt dass auch das biologische Geschlecht der Medizin, das was wir versucht sind, natürlich zu nennen, Produkt gesellschaftspolitischer, geschlechterkämpferischer Diskurse ist. Entspricht das Bild des einsamen Samentiers, das sich mühsam den Eileiter hochkämpfen muss, um als erstes und alleiniges (bei soviel männlicher Spermakonkurrenz) das auf ihn wartende Ei zu befruchten - entspricht dieses Bild nicht allzu sehr dem verbreiteten Bild des einsamen kämpferischen Mannes und der ihm als Belohnung winkenden und auf ihn wartenden Prinzessin?

Auch auf molekularer Ebene geht der kulturelle Geschlechterkampf weiter: "Der Mann ist eine biologische Katastrophe: das (männliche) y-Gen ist ein unvollständiges (weibliches) x-Gen d.h. es hat eine unvollständige Chromosomenstruktur. Mit anderen Worten, der Mann ist eine unvollständige Frau, eine wandelnde Fehlgeburt, die schon im Genstadium verkümmert ist." (Aus Valerie Solanas: "Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer", 1968).

Hier vorweggenommen Laqueurs Schlussfolgerung: "Ich will anhand historischer Zeugnisse zeigen, dass so ziemlich alles, was man über das Geschlecht des Leibes (sex) aussagen möchte (... ) immer schon etwas aussagt über das Geschlecht im soziokulturellen Raum (gender)". (p24f)

Die Diskussion des Abends näherte sich dem Thema an. Wie inszeniert sich das Geschlecht? Erich erzählte einen modernen Mythos: es gäbe irgendwo eine Insel, auf der alle Menschen als Frauen auf die Welt kommen. Erst mit der Pubertät entscheidet sich dann das Geschlecht der einzelnen. Die Gleichgeschlechtlichkeit ist ja auch ein Zeichen der Mode unserer Zeit: auf der Strasse kann sich, ob Mann ob Frau, in gleicher Weise anziehen. Wer die Hosen anhat, ist nicht mehr geschlechterspezifisch. Heutige Fotomodelle sollen sowohl Männer wie Frauen ansprechen.

Nicht so bei den öffentlichen Toiletten: hier votierte niemand für eine Zusammenlegung. Die SBB liess verlauten: Frauentoiletten seien viel verdreckter als Herrentoiletten und so kosteten die Frauen sie eine Stange Geld mehr. Dafür verdrecken die Männer den öffentlichen Raum: an Festen suchen sich viele Männer die nächste Ecke, um ihren Druck loszuwerden. Hier folgte eine philosophische Überlegung. Dass die Männer beim Urinieren zielen müssen ist Ausdruck ihres geistigen Zielens. Männer urinieren zielgerichtet, Frauen "bewässern" den Boden. Was sofort Widerspruch erregte: Frauen machen beim hockend urinieren auch Zielspiele!

Ecki gab mit dem Einwand, Männer hätten öffentlich Pissoire, Frauen aber Wickeltische, dem Gespräch eine neue Wendung. Wie sieht die öffentliche Rollenverteilung zwischen Mann und Frau aus? Die Arbeitsplätze sind auf männlichen Modellen geschaffen. Sie bieten keine Infrastruktur für einen anderen als den männlichen Rhythmus. Den Frauen bleibt häufig nichts anderes übrig, als ihre Befindlichkeit zu unterdrücken und ihre "Natur" zu überwinden: die Mens ist öffentlich kein Thema. Die Mens gibt konstruktive Energien, verändert die Wahrnehmung. Warum hat man in einer Welt, die auf Nützlichkeit ausgelegt ist, den Nutzen der Mens noch nicht erkannt?

Es ist immer noch so, so Ingrid, dass die Frauen alles das austragen, was die Männer von sich geben. Gäbe es bei einer Frauenregierung keine Finanzkrisen, keine Kriege mehr? Vielleicht doch. Aber als erstes würde alle Marschmusik in einen tänzerischen ¾ Takt umgeschrieben...

Ingrid schlug einen Weg vor Richtung geistiger Welt. Dass die Überwindung des Körperlichen ein konstruktiver Weg sei, bestritt Guy heftig. Das Körperliche zu verneinen führe zu einer negativen Schlussbilanz. Das "christliche Seelenheil" hätten wir heute noch auszubaden. - Wieviele Menschen haben denn eine erfüllte Sexualität? Und was heisst das überhaupt? Ist es die freie Sexualität, die in der Romantik und auch von Charles Fourier gefordert worden ist? Wie sieht das Paradies der erfüllten Sexualität aus?

Könnte man denn aktiv an der Inszenierung der Geschlechter mitgestalten, um so mitzuhelfen, das Verhältnis zwischen Mann und Frau neu zu definieren? Die Bekleidung wurde zum Thema. Judith H. bekleidet sich bewusst. Guy macht's nicht bewusst. Ist das Bekleiden nur ein Spiel? Daniela überlegt sich, bevor sie aus dem Haus geht: Aufdonnern oder nicht aufdonnern? Peter zieht sich beim ersten Kontakt mit einem Kunden Hemd und Krawatte an. Beim zweiten einen Rollkragenpullover. Beim dritten und den nächsten Kontakten T-Shirt. Er sieht dies als ein Spiel mit den Konventionen.

Im letzten Teil der Diskussion drehte sich das Gespräch wieder um die Medizin und die Rolle, die sie in unserem Leben spielt. Inwiefern bestimmt Wissenschaftsgläubigkeit unsere Vorstellung vom Körper? Ecki findet es seltsam, dass Adi eher einem Historiker und Sozialwissenschaftler wie Laqueur Glauben schenkt und der Medizin gegenüber so kritisch eingestellt ist.

Zum Abschluss machte Daniela den Vorschlag, die oben erwähnte Schlussfolgerung Laqueurs auf alle unsere weiteren Körperdiskussion anzuwenden: Alles, was man über den biologischen Körper aussagen möchte, sagt immer schon etwas aus über den Körper im soziokulturellen Raum.

Das nächste Treffen (8. August) wird aus verschiedenen "kleineren" Beiträgen bestehen: Peter bringt etwas über BIOMECHANIK (Bewegungstheorie), Judith H. über LABAN, Edgar über GROTOWSKI. Für ein späteres Treffen schlug Daniela die Diskussion der Postfeministin Camille Paglia vor. Auch Rafael Iten hat sich gemeldet: Urs Zürcher, der sich in seiner Liz-Arbeit mit körperlichen Missbildungen beschäftigt hat würde gern an ein Treffen kommen. Mein Vorschlag für den 28. August: Besuch von KUNSTSTÜCKKÖRPER, Behinderten-Tanz gegen künstliche Körperideale, Berner Tanztage 97.

Ich werde nach jedem Treffen ein Protokoll verschicken (wer sein Interesse an der Diskussion verloren hat, soll mir doch das sagen und ich werde nichts mehr schicken!) Ich lege jeweils eine ausgearbeitete Adressliste bei. Mit lieben Grüssen. Adi.