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Salon am Gartenwegi

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NAGA

Nachtessen am Gartenweg: Ich fange an, wo die anderen aufhören

Andrea Vogel ist Expeditionsleiter, Extrembergsteiger und hat im Sommer 1996 die ganze Schweiz der Grenzlinie entlang umrundet und das in drei Monaten. Der 43jährige ist also gewissermassen unser Idealgast, hat er doch damit Grenzerfahrungen aller Art gesammelt. Obwohl er eingangs sagt, er sei sehr müde (er hetzt gerade von Amt zu Amt, um die Papiere für eine Tour in die Sahara zu bekommen - auch Grenzgänger müssen bürokratische Hindernisse überwinden) ist er bald in Hochform. Er fragt Adrian lateinische Vogelnamen ab und erzählt von seinen früheren Erfahrungen mit Salonrunden: "Einmal war ich an einer solchen Runde bei lauter älteren Damen im Bündnerland. Die Damen stammten aus einem Adelsgeschlecht, und alles war sehr vornehm. Die etwa 15 Gäste dort waren teils Künstler, Leute aus der Wirtschaft." Eine spannende Erfahrung sei das gewesen, sagt er.


Wieso umrundet man die Schweiz ihrer Grenze entlang, wollten wir natürlich alle wissen? "In den Bergen hast Du die beste Aussicht! Da siehst Du alle Frauen", witzelt er zunächst, erzählt dann aber von Anfang an, wie es zum Grenzabenteuer kam. "Ich bin im Prättigau ganz normal aufgewachsen. Man hat ins Tal hineingelebt und hat es allen recht gemacht. Vater war Schreiner und Jäger, Mutter Hausfrau." Nach Schulende liess er sich bei Ems Chemie zum Kunststofftechnologen ausbilden, einfach so, weil "man" eben eine gute Lehre machen musste.

Gleichzeitig hatte er aber immer Freude an der Natur und verbrachte viel Zeit in Vaters Jagdhütte. "Die Arbeit mit dem Kunststoff bildete dazu einen extremen Gegensatz." Später arbeitete er bei der Swissair und hatte so die Gelegenheit, für wenig Geld viel zu reisen. Zwar gaben ihm seine Arbeitgeber viel Freiraum. So konnte er Teilzeit arbeiten, lange Urlaube einziehen und in dieser Zeit als Tourenleiter in die Berge gehen. Dennoch habe er sich immer öfter die Frage gestellt: "Ist das alles?" Dann kam auch noch das Thema Umweltverschmutzung dazu. "Ich sah die komische Farbe des Baches, neben dem ich meine Instrumente wusch", sagt er, und so habe sich immer öfter die zentrale Frage gestellt: Warum lebst Du hier? Was ist der Sinn?" "Ich bin immer ein Sondervogel gewesen." Immer wieder braucht er einen Ausdruck, der wie sein Motto klingt: "Ich sagte nie 'Nein geht nicht', sondern immer einfach "Go!" Er habe zu schreiben begonnen und zu fotografieren, habe Vorträge gehalten und habe schliesslich festgestellt: "So geht es nicht weiter." Dann habe er seinen Job gekündigt. "Ich sass zu Hause in der guten Stube und überlegte 'wie weiter?'. Fragend blickt er in die Runde, Hansruedi macht einen Vorschlag: "Du kannst Dein Hobby professionalisieren. Aber dann hast Du keine Ferien mehr, musst vielleicht auch dein Ideal kompromittieren."

Die Unsicherheit habe ihn sehr belastet: Ich bin Jungfrau im Sternzeichen. Ich habe nicht gerne Unsicherheit. Voll oder nichts, so muss es für mich sein." Am dritten Tag in meiner Stube kam die Idee: "Grenztour Schweiz. Plötzlich hat mich das gepackt. No limit, völlig an der Grenze, kompromisslos. Die verschiedenen Sprachen, Du triffst den Bergbauern und den Industriellen. Da erlebst Du was!" Es sollte für Andrea aber nicht einfach ein Rekord, ein Egotrip sein. Es sollte schnell gehen, nicht mehr als dreissig Tage. "Ich wollte damit ein breites Publikum packen".

"Rein topografisch schien mir das verrückt spannend", sagt Andrea. Er erwähnt die zahlreichen Viertausender, schwindelerregende Ab- und Aufstiege. Es sei ihm auch darum gegangen, den Leuten zu zeigen: Man muss nicht immer in ferne Länder reisen, um etwas zu erleben. Es geht auch ohne Kommerz und ohne Umweltbelastung." Doch schnell habe er sich die Frage gestellt: "Ist das schon mal gemacht worden. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ichs nicht mehr gemacht." Es wäre dann nicht nur für ihn nicht mehr spannend gewesen, sondern auch wahrscheinlich nicht finanzierbar.

Aus der Reise sei in jeder Hinsicht ein Grenzgang geworden. "Physisch, psychisch, finanziell. Drei Seen, 18 Viertausender 68 Dreitausender, und das alles in drei Monaten und aus eigenen Kräften. Ich entschloss mich, auf der Schweizer Grenze zu gehen, und maximal 1500 Meter davon abzuweichen. Möglichst eng, aber nicht gestört, war die Devise. Lawinencouloirs und ähnlichen Gefahren konnte ich so ausweichen."

Auch die Landestopografie war involviert. "Ich habe ihm drei Fehler auf der Karte markiert. Aber das war oberflächliche Arbeit. An der Landesgrenze könntest Du im Kartographieren den Doktor machen: Im Landesinnern ist die Landestop top. Aber sobald es an die Grenze geht, wird die Darstellung viel schlechter." Hansruedi pflichtet bei: "Man arbeitet dort nur noch mit Satellitenbildern. Wenn es steil ist und Du ein Bild von oben hast, wird es schwierig, Karten genau zu zeichnen."

Andrea illustriert, was das für ihn bedeutete: "Da kann es passieren, dass du unerwartet an einer senkrechten Wand stehst und eine Stunde später einen Termin mit dem Fernsehen hast." Um alles zu planen, nahm er sich ein Jahr Zeit. Das Sammeln von Sponsoring-Erfahrungen sei einer seiner Grenzgänge gewesen. Er konnte schliesslich Firmen wie Wander, Meindl und Adidas fürs Sponsoring gewinnen. Firmen also, die mit Bergen und Sport zu tun haben. Reich sei er nicht geworden, was ja auch nicht das Ziel gewesen sei. Auch der Umgang mit den Medien erwies sich als nicht ganz einfach: "Ich wollte Action. Die Medien wollten das ebenfalls. Andrea erzählt mehrere Müsterchen, wie er die Schweizer Illustrierte als Medienpartner erlebt hat. Hier eines davon: "Nach 19 Tagen - ich hatte eine happige Zeit hinter mir - kam der Fotograf der Schweizer Illustrierte zu mir und sagte, Peter Rothenbühler habe ihm den Auftrag gegeben, er müsse mit den blutigen Füssen des Grenzgängers nach Hause kommen. Da hat es mir abgelöscht." Beatrice verdeutlicht: "Blutige Füsse hätte das Ende der Tour bedeutet." Es habe ihn gestört, dass die Medien immer ihn in den Mittelpunkt gestellt hätten. Er hätte sich gewünscht, wenn man mehr über die Kultur des Landes und die Leute geschrieben hätte, die ihn begleiteten. "Ich wollte positive Menschen, positive Geschichten. Ich wollte Freude machen."

Judith: "Brauchte es die Medien? Hättest Du es nur für Dich allein nicht gemacht?" Andrea antwortet: "Ich habs nur für mich gemacht. Aber ich hätte es nicht gemacht, wenns schon jemand gemacht hätte. Die Pioniertat hat mich gereizt. Es hat mich gepackt, weil alle sagten: Es ist nicht machbar." Er startete im Juli in Basel und reiste westwärts. Im September wollte er die Tour mit einer Segelbootfahrt durch den Bodensee beenden. Allerdings habe die Gefahr einer Flaute bestanden. "Ich habe aber festgestellt, dass der Bodensee der einzige Ort ist, wo die Schweizer Grenze nicht fest definiert ist. So fuhr ich mit dem Velo dem Ufer entlang. Das war gut, weil ich zu jenem Zeitpunkt ziemlich erschöpft war." Daniela hat noch eine Frage zur Grenze: "Hansruedi witzelt immer, ennet der Schweizer Grenze sei das Gras weniger grün. Stimmt das? Oder anders gefragt: Ist die Schweizer Grenze irgendwie sicht- oder spürbar?"

"Normalerweise siehst du sie nicht" lautet die Antwort von Andrea, "Aber es gibt Momente, wo du's spürst. Die Leute ennet der Grenze haben einfach eine andere Mentalität." Er hat allerdings Schwierigkeiten, den Unterschied zu artikulieren. Adrian sagt jedoch: "Wenn ich über die Grenze gehe, so habe ich das Gefühl, dass ich es merke. Nicht am Gras, aber an der Landschaft. Die Felder sind anders angelegt."

Daniela fragt nach dem Nachher eines solchen Grenzgangs: Muss man nachher immer wieder etwas beweisen? Muss man es nachher immer wieder tun?" Andrea sagt: "Wenn man sowas erlebst, kann man nachher nicht mehr zurück. Es ist nicht gerade eine Sucht. Aber es ist ein Weg, den Du gehst. Du beginnst ein neues Projekt und gibst alles andere dafür auf. Aus dieser Erfahrung heraus macht man nachher wieder ähnliche Dinge. Manchmal sage ich: Ich fange dort an, wo andere aufhören. Das klingt arrogant, aber hat schon etwas. Am Ende sage ich: 'Jetzt kann ichs, jetzt interessierts mich nicht mehr'.
Dann kommt Daniela auf einen eigenartigen Widerspruch zu sprechen: Andrea hat die Giftmischerei aufgegeben, arbeitet aber nachher mit Medien, die er sehr ausbeuterisch erlebt hat. Andrea dazu: "Das gehört auch dazu. Darf man nicht vertuschen. Wenn Du Dich exponierst, hast Du Gegner und Neider. Das ist ganz einfach so. Publik gemacht habe ich den Grenzgang, weil ich etwas bewegen wollte. Adrian: "Aber Du hättest es allein machen können." Andrea: "Nein, das könntest Du nicht, weil es nicht realisierbar wäre."

Beatrice hakt nach: "Willst Du jemandem etwas beweisen?" Andrea: "Das mag so aussehen. Für mich ist die Devise: Ich will etwas bewegen. Ich will etwas Positives hervorbringen. Das hat mich getrieben. Aber etwas beweisen? Du tust es ja sowieso für Dich.". Beatrice: "So wie ich Dich kennengelernt habe, musst Du Dich selber bewegen, willst geistig nicht stehen bleiben." Die Frage taucht auf, ob Beatrice Angst habe, ihren Partner bei solchen Unternehmungen zu verlieren. Beatrice antwortet: "Ich habe mehr Angst, wenn er mit dem Velo nach Luzern fährt. Ich weiss, dass er aufhört, wenn er nicht mehr weiter kann."

Adrian kommt auf den Satz zurück: "Ich fange an, wo die anderen aufhören." Er fragt: "Ist die Grenze der Machbarkeit schon die Begründung in sich selber, etwas zu machen? Was vielleicht gerade noch machbar ist, trägt in sich schon den Reiz, dass man es machen muss. Das ist ein Grenzgängertum, das ich nicht verstehe."

Andrea kann diesen Reiz sehr wohl verstehen: "Da kann man alles aufgeben und sich mich mit nichts anderem mehr beschäftigen. Wenn es nicht gelingt, kann einen das auffressen. Wenn Du bei einem 8000er auf 7999 Metern umkehrst, bist Du nie dort gewesen. Aber wenn Du nicht umkehrst, bist Du vielleicht tot. Dieses Abwägen ist der wirkliche Grenzgang. Aber viele Achttausender-Bergsteiger haben natürlich keine Ahnung. Die realisieren nicht mal, dass ihre Begleiter ihr Leben riskieren."

Worauf Daniela unweigerlich auf Eveline Binsack zu reden kommt, der ersten Schweizerin auf dem Mount Everest. "Sie ist eine ausgezeichnete Bergsteigerin", sagt Andrea, " Und das will etwas heissen, denn gute Alpinistinnen gibt es ja nicht viele. Und es ist schön, dass sie die erste Schweizerin auf dem Everest war. Aber von einem Profi hätte ich etwas mehr Pionierarbeit erwartet. Sie wandelte auf den Spuren von Messmer. Ausserdem redet niemand darüber, dass Sherpas bei so etwas ihr Leben riskieren. Adrian stellt fest: "Mediale Grenzgänger-Erlebnisse haben meistens Männer." Beatrice dazu: "Wenn man von Grenzgängen redet, meint man meist körperliche Leistung. Grenzgänge gibt es überall im Leben."

Daniela hält dagegen: "Ich sehe Frauen mehr als jene Geschöpfe, die in der Mitte stehen und alles zusammen halten. Grenzgänge machen die Männer." Andrea erwähnt das Tessin, worauf Adrian ein Grenzbewohner einfällt: "Es gibt einen Frosch, der im Mendrisiotto hart an der Grenze lebt: der italienische Springfrosch. Nur im Grenzbereich, nicht weiter als 500 bis 600 Meter von der Grenze weg."

Und wie sieht Andreas nächster Grenzgang aus? Er hat etwas Neues im petto, will aber noch nichts verraten.

Wer die Protokolle per E-Mail erhalten will, soll mir die Adresse schicken > alilum@bluewin.ch. Und wer die Protokolle überhaupt nicht mehr erhalten will, soll mir das doch auch mitteilen. Liebe Grüsse Adi


Am 22. Februar gab es Spaghetti an Pesto und Tomatensauce. Zugegen waren Adrian Borgula, Judith Huber, Andrea Vogel, Beatrice Keck, Hansruedi Hitz und Daniela Bühler.

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