DAS KULTURKABINETT



Protokoll vom 29. Juni 97

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Nachtessen am Gartenweg

Nach dem fünften zusammenstoss hier eine kurze Zusammenfassung des Abends vom 29. Juni und eine Einladung für das Essen vom Freitag, 18. Juli, 20.15 am Gartenweg 6. Es waren da: Judith Huber, Judith Albisser, Peter Troxler, Adi Blum, Edgar Frey, Daniel Kasztura, Michael Wolf , Claudia Niederberger. Zu essen gab es Risotto mit Steinpilzen.

1. Der Körper ist ein menschliches Versagen. Ihm ist nicht zu trauen. Er wird durch Maschinen ersetzt, die exakter, präziser und vorhersehbarer arbeiten können. In vielen Bereichen gesellschaftlichen Lebens vor allem aber im öffentlichen Raum hat sich die Maschine (Bankomat, Computer ... ) durchgesetzt, und - wie es im futuristischen Manifest von Marinetti vor mehr als fünfzig Jahren gefordert worden war - hat das Reich der Maschinen das Reich der Lebewesen abgelöst. Was bedeutet das für den Schauspieler und die Schauspielerin, den Performer und die Performerin? Werden auch sie durch Maschinen ersetzt? Können sie, wie Luc Steels es vorschlägt, technisch aufgerüstet werden? Menschen, die bereits zwei Augen haben, könnten ja beispielsweise - so Steels - zusätzlich mit Kameras ausgelastet werden, um die Reichweite des Sehens zu vergrössem. Und wenn dann die Maschinen versagen, ist das kein menschliches Versagen mehr?

2. Der Zuschauer und die Zuschauerin wollen am Geschehen teilhaben, sie wollen interagieren. Sie wollen - wie die Spieler auf der Bühne - spielen, Knöpfe drücken, Einfluss nehmen. Ein monohthisch unveränderbares Bild, eine gesetzte Szene nehmen sie nicht mehr ernst. Das Publikum will das Programm ändern können, eine eigene Richtung, eine eigene Gangart einschlagen. Es will nur in den Räumen sein, die es sich selbst gewählt hat. Die Beschaulichkeit hat ein Ende gefunden. Das Publikum inszeniert sich selbst. - Und wenn die dem Publikum gebotenen Spielmöglichkeiten reichlich und genügend komplex sind, kann nicht mehr viel schief gehen. Das Theater wird zur manipulierbaren Ausstellung. Die Ausstellung wird zum Theater ohne Bühne.

3. Klassisches Konzert in der Franziskanerkirche. Auf den harten Bänken sitzen gedrängt die Zuschauer. Die Musik hat zu spielen begonnen. Der kultivierte Zuhörer hört zu - in sich versunken. Ein stadtbekanntes Original betritt die Kirche durch das Hauptportal. Er geht, alle Aufinerksamkeit auf sich ziehend, durchs Kirchenschiff nach vorne zum Altar, wo die Bühne aufgebaut ist. Er stellt sich gut sichtbar hinter den Dirigenten und beginnt in dessen Rücken mitzudirigieren. - Die Verantwortlichen wissen nicht wie reagieren. Der Auftritt wirkt keineswegs dilettantisch. Am Ende des Konzertes verneigt sich das Original mit dem Dirigenten.

Neue Technologien - Interaktion - die Inszenierung der Wirklichkeit. Braucht es den Schauspieler noch als conditio sine qua non des Theaters? Michael Wolf meinte ja. Judith Albisser meinte nein. Nähme man diese Nein als eine formale Vorgabe, wie könnte dann eine mögliche Umsetzung aussehen?

Gang ins Schauspielhaus Zürich. Der Vorhang geht auf . Ein grosses, die ganze Sichtfläche abdeckendes Aquarium steht vorne. Darin schwimmen ganz verschiedene Fische. Die Zuschauer betrachten die Fische. - Der Pausengong ertönt. Nach der Pause spielt die zweite Hälfte. Jetzt sind die Fische nicht mehr wirklich, sondern "virtuell". Das Schauspiel wiederholt sich.

Gang ins Kino Atelier. Der Zuschauerraum ist leicht hell. So können sich die Zuschauer gegenseitig beobachten. Das Surren des Filmabspielapparaten gibt das zeitliche Raster für die Vorstellung. Der projizierte Film beleuchtet die Szene. Es wird heller und dunkler. Die Zuschauer spielen die Rolle des Zuschauers. Sie inszenieren sich selbst.

Gang ins Kunsthaus. Es hangen nur noch leere Bilderrahmen an den Wänden. Eine Klanginstallation beschallt den Raum. Man hat Schauspieler engagiert, um als Kunstkörprer zu lächeln (wie zum Beispiel: Smile, ENTER 96), das Lächeln wird darin vom Kunstkörper aus den Museumsräumlichkeiten in den öffentlichen Raum getragen.

Öffentlicher Raum. Die Polizei inszeniert gerade die Abführung eines Bankräubers. In einer anderen Strasse herrscht gerade ausgelassener Festbetrieb. "Karneval ist ein Schauspiel ohne Rampe, ohne Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und Zuschauer. Im Karneval sind alle Teilnehmer aktiv, ist jedermann handelnde Person. Dem Karneval wird nicht zugeschaut, streng genommen wird er aber auch nicht vorgespielt. Der Karneval wird gelebt - nach besonderen Gesetzen und solange diese Gesetze in Kraft bleiben." (Aus: Michael M. Bachtin. Literatur und Karneval.)

Wie könnten wir den Extraterrestrialen den menschlichen Körper näher bringen? Was müssten wir ins Raumschiff packen, um ihnen den menschlichen Körper zu zeigen? Daniel wollte erst wissen, was für eine Wahrnehmung die Ausserirdischen haben. Denn nur dann kann man ihre Sprache sprechen. Das rein "materielle" Vorgehen ist problematisch: ist für sie eine Fotografie von Claudia Schiffer einfach ein Stück Papier oder etwa etwas zum Essen? Will man die Fähre trotzdem packen, muss man von einer Star-Wars-Utopie ausgehen. Die Extraterrestrialen sind nicht Menschen, aber sie verstehen einen auch den Menschen verständlichen Code.

Adi machte im späteren Teil des Abends den Versuch eines Katalogs:

1) Reproduktionen von Körperdarstellungen von Künstlem und Künstlerinnen., alle 50 Jahre der Kunstgeschichte ein Sample.

2) Eine Kunstfigur, der man verschiedenes Aussehen, verschiedene Gebrechen und Zustände andichten, anprogrammieren kann oder aber eine Kunstfigur, die von allen ausgewerteten Daten den Durchsclmitt hat. Dem gegenüber steht die Idee, per Zufallsprinzip irgendeinen Menschen zu nehmen, dessen Körper, Leben und Geschichte - so wie er oder sie es gut findet - dargestellt wird. Es könnten auch mehrere "Zufallsmenschen" sein.

3) Geografisches Raster über den Globus ziehen: Fotoserie, alle 500 km ein Porträt.

4) Das Wachsen eines Menschen: von Kindesalter bis ins hohe Alter.

5) "Adam und Eva" und weitere Menschentstehungsmythen in Comixform dargestellt.

6) Puppen und Kleider

7) Räune einrichten, die menschlichen Gefühlslagen entsprechen. Liebe, Eifersucht, Hass, Neid, Melancholie, Einsamkeit, Macht, Lust...

8) Bilder von Massenveranstaltungen

9) Ein grosser Block feuchten Lehms

10) Samples aus der Kosmetikindustrie, aus der medizinischen Industrie, Prothesen und ... und ... und...

Könnte so die Inszenierung eines Körpers aussehen? Fehlen entscheidende Aspekte?

In der laufenden Woche ist mir folgendes Programm in die Hände gefallen: Berner Tanztage unter dem Titel KUNSTSTÜCKKÖRPER, Behinderten-Tanz gegen künstliche Körperideale. 28. August: "Departed Soul' mit der japanischen Taihen-Performance-Behinderten-Truppe. 2. September: "Pas de deux mit Rollstuhl" mit Alito Alessi und dem spastisch Gelähmten Emery Blackwell. 28. Und 29. August: "Meinwärts" mit dem kleinwüchsigen, verwachsenen Raimund Hoghe. 3. September "Miracle par hasard" mit der Pariser Gehörlosen-Gruppe Visual Theatre.

Präsentiert diese Veranstaltungsreihe nun eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Körper oder ist es eine publikumsheischende Freak Show?

Wir könnten uns ja für das Nachtessen vom 29. August in Bem treffen und eine der Vorstellungen zusammen anschauen gehen. Daniela Bühler bereitet für das nächste Treffen (18. Juli) eine Thesenliste vor. Thema: "Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud von Thomas Laqueur." Sie und Peter Troxler werden auch kochen. Ich werde nach jedem Treffen ein Protokoll verschicken (wer sein Interesse an der Diskussion verloren hat, soll mir doch das sagen und ich werde nichts mehr schicken!) Ich lege jeweils eine ausgearbeitete Adressliste bei. Mit lieben Grüssen. Adi.