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Nachtessen am Gartenweg: Jacques Derridas GOLEM

Utopie (U-topos) heisst nicht nur Nicht-Ort sonder auch Nicht-Begriff. Wie diese Definition vor allem auf Max Weber und Jacques Derrida zutrifft, erläuterte uns Felix Keller an diesem Abend.

Zunächst aber rollte er den Utopiegedanken historisch auf. Es war ja Thomas Morus, der den Begriff durch seinen Roman Utopia prägte. Er skizzierte eine Insel mit einer hochentwickelten Gesellschaft, die anders als die seine funktionierte. So wurde im fiktionalen Utopia etwa das Gold als gesellschaftlicher Wert negiert. Ende 17. Jahrhundert schrieb Francis Bacon sein Nova Atlantis. In diesem Werk kreierte der Staatsmann Bacon eine Welt, in der die Wissenschaftler regierten. Wichtig sei hier festzuhalten, so Felix, dass in solchen Utopien Raum geschaffen wurde für andere Möglichkeiten. In diesen Raum imaginierten sie eine andere Gesellschaft.

Kurz vor der französischen Revolution kam aber ein entscheidender Bruch. Im Roman Paris 2400 wurde das imaginierte Utopia nicht mehr an einen anderen Ort wie etwa die Insel von Morus verlegt sondern in die Zukunft. Die Utopie wurde verzeitlicht. Die Utopie bedeutete also nicht einfach mehr etwas, was als Parallelwelt auch denkbar wäre, sondern sie wurde als ein schon in der Gesellschaft selber schlummernder Plan für eine mögliche Zukunftsgestaltung dargestellt. Dieser Bruch scheint auf bei den Frühsozialisten, z. Bsp. bei Charles Fourier, der einen Sprung in die Harmonie prophezeite, wenn man alle vorbereitenden Arbeiten geleistet habe, aber auch bei Karl Marx, dessen Gesellschaftsentwurf keine Fiktion bleiben sollte.

Die Geschichte der Zukunft wurde also plötzlich ein Thema der Wissenschaften, die jede Fiktionalisierung vermeiden wollte. Nicht von ungefähr ist die Zeit, zu der Auguste Comte eine Gesellschaftswissenschaft (die heutige Soziologie) forderte, bei der das ganze fiktionale Element draussen bleiben sollte, und das Entstehen der Science Fiction Literatur (Edgar Allan Poe, später Jules Vernes) fast zeitgleich.

Einen weiteren Bruch in der Geschichte des Utopiebegriffs stellte Felix fest in den 10er und 20er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist dies die Zeit der Dystopien, der negativen Utopien. Modern Times, 1984, Brave New World, all dies waren Werke, die aufzeigen wollten, dass das Imaginieren einer Zukunft nur noch negativ denkbar war. Max Weber forderte gleichzeitig für die Sozialwissenschaften eine "Entzauberung der Welt" (1919) und eine entsprechende "Bürokratisierung". Er stellte fest, dass ein Warten auf Erlösung ungut war und stellte diesen Zukunftshoffnungen eine "schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit" gegenüber.

Dennoch ist bei Weber beim Postulieren dieses Utopienverbot das Gefühl eines Verlustes erahnbar: " `Wächter, wie lange noch die Nacht?` Der Wächter spricht: `Es kommt der Morgen, aber noch ist es Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt ein ander Mal wieder`" (Weber; 1919). Weber anerkennt das Begehren nach etwas anderem, warnt aber vor Gesellschaftsentwürfen, die einen Sinnzusammenhang stiften wollen. Sie führen seiner Meinung nach in die politische Katastrophe.

Und die Geschichte gab ihm recht: Die reaktionäre Utopie des Dritten Reiches und die Kommunistische Utopie in Russland diskreditierten die Utopie ganz reell. Ende der 40er-Jahre wurde dann das Ende der Utopien ausgerufen. Das Entwickeln von umfassenden Gesellschaftsentwürfen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es führt unweigerlich zu Krieg und Leiden. Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 ist der Nullpunkt der Utopie erreicht.

Es hat eine neue, postmoderne Ära begonnen, die Ära des "anything goes". Allmählich wird sogar vom Verschwinden der "Geschichte" gesprochen, wie dies etwa Francis Fukuyama in seinem Buch "Das Ende der Geschichte" (1992) tut, in dem er argumentiert, dass das Ende der Geschichte mit der liberalen Demokratie amerikanischer Prägung erreicht sei. Es ist nicht mehr möglich zu sagen, was die Zukunft ist.

Nach Jacques Derrida, dessen Schriften eine ganze Generation von Studenten und Studentinnen geprägt haben, ist es auch nicht mehr möglich zu sagen, was die Gegenwart ist. Mit seiner Methode der Dekonstruktion ist es ihm gelungen zu zeigen, dass die Gegenwart kein positiver Wert sein kann, da sie nur aus konstruierten Differenzen besteht, der différance. In seinem Aufsatz "Die Schrift und die Differenz" (1967) dekonstruiert er die Mythenforschung von Levi Strauss und stellt fest, dass Einheit nicht zu konstruieren ist. Es bleibt immer eine Differenz, ein Widerspruch der Sprache.

Und doch: Auch bei Derrida findet sich eine Idee des Utopischen. Beim Schlussabschnitt des oben erwähnten Aufsatzes von Derrida setzt Felix mit seiner These ein.

"Gewiss, ich wähle diese Worte (...) mit Blick auf die Vorgänge, die in einer Gesellschaft, von der ich mich nicht ausschliesse, den Blick ablenken, angesichts des noch nicht Benennbaren (meine Hervorhebung), das sich erst ankündigt und dies nur tun kann (...) in der Gestalt der Nicht-Gestalt, in der unförmigen, stummen, embryonalen und schreckenserregenden Form der Monstrosität." (Derrida; 1992)

Es wird also einmal in Zukunft etwas Benennbares geben? Jürgen Habermas, ein Kritiker Derridas, nannte ihn konservativ. Er mache nichts als jüdische Mystik. Kabbalah. Lässt man sich auf Habermas` Argument ein, eröffnet sich einem eine spannende andere Perspektive auf das Utopienproblem: In den Religionen sind gewisse Denkmöglichkeiten aufgehoben, abgespeichert, die in gewissen Zeiten wieder hervorkommen.

Was beschreibt die jüdische Mystik? Ganz vereinfacht gesagt gibt es ein Begehren nach dem Anderen, das man nicht benennen kann. Die Torah ist das Buch der Welt. Hinter ihrer Schrift liegt das Buch der Welt verborgen. Wer die Heilige Schrift richtig entziffern kann, der erlangt Zugriff auf das Buch der Welt und somit auf die Wahrheit: emeth. Wer den Namen Gottes aussprechen kann, erlangt Macht über die Welt, da er in der Welt lesen kann wie in einem Buch.

Die Suche besteht aus anagrammatischen Spielereien, einem kontinuierlichen Neuzusammensetzen von Wörtern und Texten. "Wer die Torah in der richtigen Reihenfolge lesen kann, kann die Toten wieder beleben und Wunder verrichten. Daher ist die richtige Folge und die Anordnung verborgen worden und nur den Heiligen bekannt." (Scholem) Und hier kommt durch die Hintertür wieder das Utopienverbot ins Spiel. Wenn jemand, ein Unheiliger, und zur falschen Zeit den Code entschlüsselt, würde er eine Monstrosität gebären.

Dieses Monster hat in der jüdischen und der literarischen Tradition einen Namen: GOLEM. Es wird aus Lehm geschaffen, indem man ihm das göttliche Wort emeth (Wahrheit), auf die Stirn schreibt. Es erwacht dann zum Leben, und erst wenn man den Buchstaben e (hebräisch: aleph) streicht und nur noch das Wort meth (Tod) zu lesen ist, zerfällt es wieder zu Lehm. Meist kommt dabei dann der Erschaffer des Monsters selbst ums Leben. Es gilt also zu schweigen und zu warten und vor allem zu schweigen, bis der richtige Zeitpunkt da ist.

Dieser Topos ist in der Literatur weit verbreitet. Rabbi Loew erweckt in Prag den Golem, um ein jüdisches Progrom abzuwenden, und wird unter den Massen des Lehms erdrückt, als er den Aleph von der Stirn der Kreatur wischte. Der bekannteste Golem-Roman des zwanzigsten Jahrhunderts ist wohl Gustav Meyrinks Der Golem (1915). Das Foucaultsche Pendel (1989) von Umberto Eco wird ja wohl den meisten ein Begriff sein. Wer Lust hat kann ja schnell mal in Mark Amerikas Hacker-Hypertext Grammatron reinschauen: www.grammatron.com. Hier wird vom Autor die Suche nach dem richtigen Code im Kontext des Internets thematisiert. Abe Golam schafft den magischen Code Nanoskript, der seit Menschengedenken allem zu Grunde liegt und macht eine Reise in die Sim-City Prag-23.

Ein ganz aktuelles Beispiel für die Behandlung des Stoffes ist natürlich der Film Matrix. Neo, der Auserwählte, erlangt die Fähigkeit, die Matrix zu lesen, wird unverletzlich und kann so die feindlichen Agenten, die es auf den zentralen Rechner Zion abgesehen haben, erfolgreich bekämpfen. Auch der Science Fiction Neuromancer (1984) von William Gibson endet mit einem zynischen Hinweis auf den göttlichen Code. Es sind hier nämlich nicht mehr die Menschen, die den Code entziffern können sondern die Maschinen, die Roboter, die Bots, die Avataren.

Die Welt driftet auseinander. Wie finden wir wieder zusammen? Das Utopienverbot wird zum Utopienausprechverbot. Du darfst es nicht sagen, sonst machst du's kaputt. Es wird besser, indem du's nicht benennst. Sonst schaffst du vielleicht unbeabsichtigt Derridas "unförmige, stumme, embryonale und schreckenserregende Form der Monstrosität": den GOLEM.

LITERATUR:

Derrida, Jacques, 1992, "Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen", in: (derselbe): Die Schrift und die Differenz (frz. Original: L'écriture et la différence, Paris, 1967), Frankfurt a. Main, Suhrkamp, S. 422 - 442.

Eco, Umberto, 1992, Das Foucaultsche Pendel, München, dtv.

Gibbson, William, 1984, Neuromancer, München, Heyne.

Habermas, Jürgen, 1985, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. Main, Suhrkamp.

Scholem, Gershom, 1957, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich, Rhein.

Scholem, Gershom, 1960, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich, Rhein.

Wer die Protokolle per e-mail erhalten will, soll mir die Adresse schicken (alilum@bluewin.ch). Und wer die Protokolle nicht mehr erhalten will, soll mir das doch auch mitteilen.


Nächstes Treffen: Freitag, 25. August, um 19 Uhr: Hans Thalmanns Utopikon

Hans Thalmann verfasste das Buch Uster zum Beispiel; 1999; "Arbeitspapiere zum Public Management". Er hat die Entwicklung von Uster aus nächster Nähe miterlebt. Er war 1986 bis 1998 Stadtpräsident von Uster. An diesem Abend möchte er uns zeigen wie man aus Ebikon Utopikon machen kann.

Beim Nachtessen mit Felix Keller waren dabei: Beat Gloor, Hansruedi Hitz, Daniela Bühler und Adi Blum. Zum Essen gab es Chili con Carne.


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