DAS KULTURKABINETT



Protokoll vom 6. Juni 97

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Nachtessen am Gartenweg

Nach dem vierten zusammenstoss hier eine kurze Zusammenfassung des Abends vom 6. Juni und eine Einladung für - ausnahmsweise an einem Sonntag - das Essen vom Sonntag, 29. Juni, 20.15 am Gartenweg 6. Es waren da: Judith Huber, Judith Albisser, Daniela Bühler, Peter Troxler, Adi Blum und Edgar Frey. Zu essen gab es Omeletten (mit Käse oder Konfitüre).

Ein Gedankenexperiment: Vor zwanzig Jahren schickten die Amerikaner eine Raumfähre ins All. In den Laderaum der Fähre waren all die Dinge gepackt, die den Ausserirdischen die Welt repräsentieren sollten, den Planeten Erde, die Natur, den Menschen und seine Erkenntnisse... Nun, wenn wir eine Raumfähre losschicken würden, was wäre ihre Fracht. Wir setzen uns zum Ziel, nicht die ganze Welt zu repräsentieren, sondern nur den menschlichen Körper. Was würden wir den Ausserirdischen schicken wollen, damit sie einen Begriff bekämen, was ein menschlicher Körper ist? Habt ihr Vorschläge, Ideen? Schickt sie mir, damit wir sie am neunundzwanzigsten auflisten können, katalogisieren und losschicken.

Körper auf der Bühne war das Thema des Abends. Drei weitere waren vorgeschlagen: KÖRPER (die Protokollbeilage vom 28. April), der groteske Leib und die karnevaleske Lachkultur und ein Buch von Thomas Laqeuer: "Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud." Ausgangslage für die Diskussion war eine Zitatensammlung, die Adi zusammengestellt hatte.

Oskar Schlemmer, Bauhaus, 1924: "Die Kunstfigur ermöglicht jede beliebige Bewegung, und jede beliebige Position kann erhalten werden, so lange wie gewünscht. (... ) Perspektiven tun sich auf. vom Übernatürlichen zum Unsinnigen, vom Tiefschürfenden zum Komischen. (...) Seltsame Figuren einer neuen Art, Personifikationen hochschwingender Konzepte und Ideen, gestaltet aus den auserwähltesten Materialien, sind geeignet, auch symbolisch einen neuen Glauben zu verkörpern. Aus dieser Sicht gesehen, kann vielleicht sogar vorausgesagt werden, dass die Situation vollständig kehren wird: der/die BühnenbildnerIn wird optische Ereignisse (phenomena) entwickeln und sich dann einen/eine DichterIn suchen, der/die diesen Ereignissen die passende Sprache mit Wörtern und Tönen geben wird."

Oskar Schlemmer unterscheidet die Sprachbühne (die Bühne des Autors, der Autorin), die Spielbühne (die Bühne des Schauspielers, der Schauspielerin) und die Schaubühne (die Bühne des Bühnenbildners, der Bühnenbildnerin). Als bildender Künstler steht Oskar Schlemmer ein für die abstrakte Form. Er möchte zwar nicht wie andere (Craig, Brjusov) den Schauspieler oder die Schauspielerin durch Maschinen (Automaton, Marionette, Übermarionette, mechanisierte Puppen) ersetzen, doch erkennt er in der Kunstfigur die Möglichkeit einer Erweiterung des künstlerischen Spektrums.

Wir fragten uns in der Diskussion nach den Gründen für einen solchen "historischen" Gesinnungswandlung, waren doch bis zu jener Zeit vor allem der virtuose Schauspieler gefragt, der mit seiner eigenen Körperlichkeit und Sprache sein Publikum in Banne ziehen konnte. Die allgemeine Begeisterung für neue Technologien (1924) war bestimmt eine der Gründe (Futurismus: der Mensch ist ein Benzinmotor), aber auch das Aufkommen von Ensembletheatern, die nicht mehr auf "eingekauften" Stars ihren Erfolg bauten, sondern indem sie gemeinsame künstlerische Zielsetzungen verfolgten.

Wir machten den Vergleich mit Robert Wilson. Auch bei Robert Wilson's Spiel scheint der Körper des Schauspielers, der Schauspielerin im "Dienste" des Raums zu stehen. Wir diskutierten die Authentizität, die "Materialität" als Chance oder als conditio sine qua non der Bühnenkünste im Vergleich zu einer medialisierten Welt (Schrift, Radio, TV, Live-Video, Internet): den Blick frei schweifen lassen...

Wie kann man nun auf der Bühne "Körperlichkeit" direkt zum Thema machen, ohne dass die Sprache "dazwischenkommt"?

Sally Jane Norman: "Wie kann der Körper von diesen Bedingungen ausgehend in seiner fleischlichen Unmittelbarkeit und Schärfe in Szene gesetzt werden, ohne von einem geschwätzigen Erzähler entkräftet zu werden? Wie kann eine Live-Aufzeichnung die zersplitterte Zeit und die nicht zu fassenden Vorstellungen des Selbst, die das digitale Universum bevölkern, übersetzen, ohne an Verständlichkeit für das Publikum zu verlieren? Ist das gesprochene Wort vereinbar mit neuen Visionen des Körpers, oder sind solche Ideen nur auf nichtverbale Formen der Live-Kunst wie Tanz oder Zirkus beschränkt?" Aus Schauspielende Körper: Erscheinungen, Blut und Eingeweide in "Die Zukunft des Körpers II" (Sally Jane Norman; Kunstforum Bd. 133, Feb. - April 96)

Kurz diskutierten wir die zwei Lösungsansätze, die auf der Zitatensammlung stehen und einen dritten:

"Schleef liess die Schauspieler immer wieder mit eisenbeschlagenen Stiefeln laut knallend eine grosse Treppe herabsteigen und einen breiten Laufsteg durchschreiten, im Rhythmus des Schreitens chorisch Worte und Sätze in vielfacher Wiederholung sprechend."

"Gewissermassen in die entgegengesetzte Richtung weisen die Verfahren, mit denen Wilson die Lautlichkeit gesprochener Sprache hervorhebt. Durch einen Mikroport verstärkt, ertönen die Stimmen der Schauspieler zugleich aus Lautsprechern, vom Körper der Schauspieler scheinbar losgelöst. Zusammen mit anderem Lautmaterial Geräuschen, Klängen, Tonfolgen - bilden sie eine Art Lautcollage."

Beide Zitate stammen aus "Der gegenwärtige Augen-Blick: Theater im Medienzeitalter" in "Kurze Geschichte des deutschen Theaters" (Erika Fischer-Lichte; UTB 1993)

Der dritte ist dieser, dass eine Sprechbühne eingerichtet ist und eine Spielbühne. Teilweise kongruent, teilweise inkongruent wird gesprochen und gespielt. Zu diesen verschieden Ansätzen gab es verschiedene Meinungen.

Wir kamen auf Greenaway zu sprechen, der uns mit seinem Katalog "100 objects to represent the world" auf das Gedankenexperiment brachte, dass ich eingangs vorgestellt habe. Judith Huber erzählte von ihrem Erlebnis beim Badekleidereinkauf - ihre Brüste entsprechen nicht der Normgrösse. und das wurde ihr auf unangenehme Weise bewusst gemacht. Judith Albisser erzählte, dass in Japan die ideale Frau geschaffen worden sei. Peter erwähnte den von Corbusier entwickelten Idealkörper, dem Modulor, die Holzpuppe, die man in jeden Kunstartikelgeschäft kaufen kann. Was nun kommt in unsere Raumschiff, um den Ausserirdischen den menschlichen Körper zu zeigen? Alles Normierte und seine Extreme? Die Inszenierung des Normalen? Nur das Materielle, der Stoff aus dem die Körper sind? Was heisst Erinnerung? Hat eine Leiche Erinnerung? Fragen über Fragen. Zum Schluss (oder war's nicht der Schluss? Ich entschuldige mich für meine subjektive Protokollführung) kamen wir noch auf die Form der Vernissage/Ausstellung zu sprechen.

Es werden Gegenstände, nicht Menschen ausgestellt. Judith A. meinte, dass zwischen konventionellen Theaterstücken und einer Ausstellung gar kein wesentlicher Unterschied bestehe: Menschen bewegen sich durch den Raum es entstehen Situationen. Muss das Licht bei einer Ausstellung neutral/objektiv sein?

"Eine Ausstellung machen ist wie ein Film drehen. Etwa die Beleuchtung. Die meisten meiner Ausstellungen basieren auf dem Dunkel und setzen die Objekte ins Licht - das ist eine der Grundkonstellationen des Kinos. - Die Objekte müssen zum Leben erweckt werden, jedes Bild braucht eine andere Beleuchtung". Aus CD-ROM im OmnimaxFormat in "Die Zukunft des Körpers II" (Peter Greenaway; Kunstforum Bd. 133, Feb. April 96)

Es müsse nicht. Es komme auf die Absicht an. Mit geführtem Licht werde die Ausstellung bald sehr "theatralisch". Wir suchten Beispiele "theatralischer" Ausstellungen: die Glasi in Hergiswil (am Ende der Ausstellung trifft der Besucher, die Besucherin auf die Arbeiter, die das Glas blasen), das naturhistorische Museum in Paris (Giraffenhälse recken sich aus dem Dunkeln den Besuchern entgegen).

Daniela Bühler hat sich bereit erklärt, das Treffen vom 18. Juli vorzubereiten. Sie will das Buch "Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud" von Thomas Laqueur (ich habe Kopien, wenn man sie will ... ) ins Zentrum stellen. Nächsten Sonntag, am 28.6, haben wir also Zeit, einen Katalog fürs "Raumschiff" zu machen, auch Bachtins karnevaleske Lachkultur könnte Thema sein, oder die "Schönheit" eines ausgestellten Körpers.

Ich werde nach jedem Treffen ein Protokoll verschicken (wer sein Interesse an der Diskussion verloren hat, soll mir doch das sagen und ich werde nichts mehr schicken!) Ich lege jeweils eine ausgearbeitete Adressliste bei, Mit lieben Grüssen. Adi.