DAS KULTURKABINETT



Protokoll vom 16. April 99

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Nachtessen am Gartenweg

Nach dem 28. zusammenstoss vom 16. April hier das Protokoll des Abends und eine Einladung zum Nachtessen vom Freitag, 7. Mai, 19 Uhr im Kunsthaus Aarau. Im üblichen Rahmen trafen wir uns für ein Gespräch. Dabei waren Judith Huber, Claudius Weber, Adi Blum und als geladener Gast Beat Sterchi. Zu essen gab es: Cüvek, ein türkischer Lammfleischeintopf.

Was bedeutet dir das Publikum? Diese an Beat Sterchi gestellte Frage war Ausgangspunkt für das Gespräch. Er hat ein erfolgreiches Buch geschrieben, als er noch nicht wusste, wie der Literaturbetrieb funktioniert. Für Schweizer Verhältnisse hat "Blösch" gut verkauft. Doch er sei absolut erschrocken, als er sein Publikum kennenlernte.

"Du schreibst ein Buch mit konkreten Vorstellungen, warum du das machst (sonst würdest du das auch nicht machen), und dann kommen die Kritiker." Blösch hatte über 100 Zeitungskritiken. "Die Kritiker schreiben sich gegenseitig ab. Sie wiederholen sich. Und man merkt: was lesen die? Das war der erste Schock: die Kritiker sind Kunstkritiker. Sie sind nicht Soziologen, die Romane rezipieren. Es sind nicht Politiker, die lesen. Die Kritiker reagieren auf Sprache, auf Form, auf literarische Situierung, auf deine Belesenheit, auf deine Ansprüche. Sie reagieren kaum auf das Thema."

Darum schrieben auch, meinte er, viele Autoren schöne Sätze - wenn sie aber konkret würden, gebe es Probleme. Günther Grass sei da ein gutes Beispiel. Adi resümierte. Dann geschähe durch den Literaturbetrieb eine grosse Verharmlosung. "Blösch" sei da kein Einzelfall. Stichwort: "Angry young man". Er habe eine Welt gekannt, er habe im Schlachthaus gearbeitet und die Arbeitsverhältnisse dort und in der Landwirtschaft gekannt. Wie es dort zu und her gehe, wüssten nicht viele. Und jemand müsse davon erzählen. Journalisten der NZZ gehen nicht ins Schlachthaus, sie recherchieren nicht, wie es dort den Gastarbeitern geht, wie es dort den Kühen geht.

Engagierte Bücher wie "Blösch" gebe es noch und noch. Sie entstünden aus echtem konkretem Mitteilungsdrang, ein bisschen Eitelkeit vielleicht noch, aber vor allem aus sozialem Verantwortungsbewusstsein heraus. Er wollte nicht das eingeben, was alle erzählen. Einer erzählt vom Reisen, einer von der Uni, einer von der Musik und einer von seiner Karriere. Er habe vom Schlachthaus erzählt. Für ihn sei das Paradebeisipel "Moby Dick" von Melville. Er habe mit Hilfe von Literatur etwas in die Gesellschaft einspeisen wollen. "Nachher kommt die Rezeption - und wenn du keine Erfahrung hast, dann... - ich war höchst enttäuscht."

Es habe zwar gute Kritiken gegeben, aber alles mit einem ästhetischen Ansatz. Das habe ihn gar nicht interessiert. Beat Sterchi hat Sprachpotenz! Beat Sterchi sei ein neuer Gotthelf! usw. Das sei doch deprimierend. Dann habe es die Lesungen gegeben. Dieses Publikum sei dann etwas anderes. Er habe aufgeweckte Leute erwartet, die sich für Literatur interessieren. Aber er habe Lesungen gemacht, da seien Pfarrerswitwen, Ärztegatinnen, Lehrerinnen und ab und zu ein Lehrer, ein Psychologe dabei gewesen. Und das sei alles gewesen.

Studenten würden keine zeitgenösschische Bücher kaufen, schon gar keine Hardcovers. Am wenigsten die Germanisten. Die würden lesen, was auf ihrer Leseliste stünde. Claudius wollte wissen, wieviel Male er sein Buch verkauft habe. Beat hat sein Buch seit 83 ca. 20´000 Mal verkauft.

Es habe da die Klara Obermüller (Weltwoche) gegeben, die Beatrice von Matt (NZZ) und wenn diese (und andere) ein Buch loben, dann reagierten alle Leute, die dem Literaturbetrieb angekoppelt seien. Erst viel nachher komme es durch ganz andere Kanäle zu den eigentlich interessierten Lesenden. "Cow" (Blösch) sei jetzt unter "books about animal protection" eingeordnet. Später seien es ganz andere Zirkel als der literarische, welche themenbezogen (also dem Buch entsprechend) reagieren würden.

Das sei eine solche Sache mit all diesen literarischen Lesegesellschaften und Lesegruppen. 80-90% der Romane würden von Frauen konsumiert. Da gebe es Buchbesprechungen (z.Bsp. das neue Buch von Rushdie). Das Buch koste 45.- Franken. Fernseh-, illustrierte-, zeitungsgekoppelte Menschen kaufen es. Die Lesenden stehen meist in keinem Zusammenhang zum Buch. Viele würden auch relativ geringe qualitative Anforderungen stellen. Aber sie wüssten, was sie wollen: einen Autor, den man kennt, einen, den man jetzt liest. Im deutschen Sprachraum könnten so 30´000 bis 40´000 Bücher abgesetzt werden. In der Schweiz 8´000-10´000. Lesende, die systematisch oder themenorientiert lesen, seien selten.

Adi meinte, dass Inhalt ja eine launische Sache sei. Vor allem bei der Literaturwissenschaft. Er habe während dem Studium wenig zeitgenössische Literatur gelesen und gelernt, einen Roman auf Form und Struktur zu untersuchen. Beat meinte (mit ironischen Unterton), der Inhalt müsse ja ausgeschlossen sein, sonst müsste man ja im Studium über Politik und Gesellschaft, über die ganze Welt diskutieren.

Claudius wollte wissen, wie es zur Krise nach dem Erfolg von "Blösch" gekommen sei. Enttäuschung, sagte Beat. Das Buch war ein erfolg. Er habe in Kanada gearbeitet. Dann habe er Geld gehabt, um wieder hier zu leben, Möglichkeiten gehabt, Leute zu treffen. Aber viele Leute wären falsch gewesen, und die Leute, die ihn interessiert hätten, hätten sein Buch nicht gelesen. Er habe nichts vom Erfolg gehabt, ausser ein bisschen Geld. Automatisch seien die Stipendien gekommen. PRO HELVETIA gebe ja denen, die auf der Bestsellerliste seien, denn dann sei die Stiftung ja abgesichert, dass das Geld ja an den "richtigen" Ort komme. Es laufe ja nicht so, dass genauer gefragt werde: was machen diese Leute? Was wollen wir fördern? Jedes Jahr habe er einen Brief bekommen, unterschrieben und ein Stipendium gehabt.

Heute habe er kein Geld, aber es geh ihm viel besser. Kunst und Literatur sei häufig ein Vorwand, um die eigene Karriere zu fördern. Claudius meinte, dass es bestimmt doch Leute gegeben habe, die sein Buch "umgehauen" habe. Das Publikum interessiere sich doch nicht so sehr für den Literaturbetrieb wie für das Werk. Diese Leute seien soch am Inhaltlichen interessiert. Beat bestätigte dieses. Er fände immer noch etwa Leute an Lesungen, von denen er denke, ja für den oder die habe ich mein Buch geschrieben. Doch sei das schon eher die Ausnahme.

Das Publikum interessiere sich ja auch mehr für den Rummel. Sie wollen Bestseller lesen. Sie wollen Bücher lesen, die der Freund und die Freundin auch gelesen haben. 20´000 bis 30´000 Exemplare sei ein Bestseller und - wenn es klappe - komme ein nächster Schub und innerhalb von 2-3 Monaten seien bis zu einer Million Exemplare über den Tisch. Ein Feuerwerk sei das, und nachher höre man überhaupt nichts mehr von diesem Buch. - Die Uhr zeigte 21.15 Uhr. Beat verabschiedete sich Hals über Kopf, um den Zug nach Bern noch zu erwischen.

Am 7.Mai ist wieder ein ein bisschen spezielles Nachtessen. Es findet im Kunsthaus Aarau statt im Rahmen der Salon-Ausstellung der GSMBA. Claudius und ich veranstalten an diesem Freitag den dritten Salon der Salons. Es gibt etwas zu essen, Salongespräche und eventuell ein kleines Salonprogramm mit Reden, Darbietungen... Uns interessiert das Thema "Geselligkeit als Mittel zur Vermittlung". Die "Publikumsdiskussion" hat hier also eine konkrete Form gefunden - und ihr seit ganz herzlich eingeladen. Das nächste Nachtessen im üblichen Rahmen findet am 28. Mai um 19.00 statt.

Wer die Protokolle per e-mail haben will, soll mir doch seine Adresse schicken (alilum@bluewin.ch). Wer die Protokolle überhaupt nicht mehr erhalten will, soll mir doch das auch mitteilen. Mit lieben Grüssen, Adi.