DAS KULTURKABINETT



Protokoll vom 11. März 99

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Nachtessen am Gartenweg

Nach dem 27. zusammenstoss vom 11. März hier das Protokoll des Abends und eine Einladung zum Nachtessen vom Freitag, 16. April, 19 Uhr. Der Abend fand im Foyer des Kulturzentrums BOA statt im Rahmen von "Cadavre Exquis". Der Zyklus ist dreiteilig und im FORUM luden wir zwei Gäste ein. Das Thema des Abends war: Warum nicht aus der Haut fahren? Unser Leben zwischen Askese und Ekstase. Eingeladen waren Esther Fischer Homberger (Medizinhistorikerin, Psychotherapeutin) und Jürg von Ins (Religionswissenschaftler, und Ethnologe). Urs Zürcher moderierte. Das Gespräch war öffentlich und gut besucht. Die Ausnahme bestätigt die Regel: keine leiblichen Speisen an diesem Abend.

Der Abend begann mit zwei Kurzreferaten von Esther Fischer-Homberger und Jürg von Ins. Esther Fischer-Homberger assoziierte bedacht. Aus der Haut fahren heisst verrückt werden, ist ein verzweifeltes oder auch lustvolles aus sich herausfahren. Es ist eine Begegnung mit einer anderen Ordnung als meiner. Die Haut ist Schnittstelle, Interface. Früher wurden Auge und Ohr, die Fernsinne, als die wichtigsten Sinne betrachtet. Heute ist es der Tastsinn. Die Haut ist aktuell geworden. Die Haut ist Modell für eine Grenze, heisst Hülle. Sie ist u.a. wasserdicht und schmutzabstossend. Sie steht für Begegnung, Erotik. Sie ist ein komplexes Organ.

Wenn ich aus ihr herausfahre, werde ich eins mit dem andern. Ich habe keine Haut mehr. Die Massregulation entfällt. Die Haut verliert die Funktion der Regulierung. Die Sinnlichkeit steht wie für sich selbst: Verzückung, Horrortrip. Wie kommt man aus der Ekstase wieder in die Haut zurück? Wie findet man wieder zur Verankerung im eigenen Körper?

Askese heisst Übung, Ertüchtigung. Es ist die Arbeit mit dem Körper. Sie ist die Vorbedingung, um ekstatische Zustände zu erreichen. Es gibt ein Problem der Unvereinbarkeit. Da ist der Wunsch im Mensch nach Sicherheit in der Ordnung, aber auch der Wunsch nach Auflösung dieser Ordnung. Die Gesellschaft bietet Rituale an: Fasnacht, Feste mit Drogen, Rausch, Sexualität. Doch wir sind eine antirituelle Gesellschaft geworden. Vielleicht übernehme das Kino da noch eine Funktion. Bomben explodieren. Wir sind anderswo. Die Leinwände, die Bildschirme sind Häute, aber keine fühlenden Häute.

Wir sind einen neurotischen Kompromiss eingegangen. Wir haben das Neue und zwar alltäglich. Wir nehmen die Sicherheit als Risiko. Wir klicken uns in einem sicheren Rahmen ans Ende der Welt. Sucht ist unser Thema. Der Geschäftsmann spritzt sich das business man´s acid , in 15 Minuten ist man wieder fit. Hinzu kommt beziehungsloser Sex. Was wir betreiben ist nicht ein aus der Haut fahren sondern ein Verbreitern der Haut. Weltweit. Alles verwandelt sich ins eigene. Keine Berührung mit dem anderen findet mehr statt. Was wir berühren, verwandelt sich in Gold. Das ist der Midas-Fluch.

Jürg von Ins definierte Ekstase als ein Heraustreten aus dem gesellschaftlich bestätigten Ich. Der Begriff sei geschaffen von denen, die diesem Vorgang zugeschaut haben. Er bestätige die Perspektive des Betrachtenden. Für den Erlebenden ist wichtig, dass er an einem anderen Ort ist, und das können ganz verschiedene Orte sein. Er könne bei Dämonen sein, von einer Göttin geküsst werden usw. Die Ekstase ist kein Zustand, sondern eine Bewegung. Es gelte den Verlauf der Bewegung zu verstehen.

Seine Beobachtungen in Westafrika hätten ihm gezeigt, dass es zwei Wertungen gibt. 1) die Ekstase mit Selbstkontrolle 2) die Ekstase ohne Selbstkontrolle mit körperlichem Zusammenbruch. Ausser sich sein heisse Gott in sich haben. Das passiere nur bei der zweiten Wertung. Bei uns sei das nicht erlaubt. Beispiel Techno. Wenn jemand ohnmächtig werde, hole man die Ambulanz. Technotanz sei eine wilde Jagd nach dem Zusammenbruch, der nicht erlaubt sei. Der Ekstatiker kümmert sich nicht nur um das gesellschaftliche Ich. Er jagt sich selbst, die mehreren Ichs, die er hat. Er sucht eine Einheitlichkeit.

Der Asket ist da anders. Er lässt die eine Hälfte seines Ichs verdorren, damit die zweite Hälfte spricht. Die Ekstase ist ein Zustand erhöhter Kommunikationsfähigkeit. Der Ekstatiker spricht eine Sprache, die alle verstehen. - Bei uns sind die Götter gestorben, weil sie nicht gepflegt worden sind. Die Dämonen (Raserei, Fresssucht usw.) leben aber noch munter vor sich hin.

Urs Zürcher stellte Fragen. Ich gebe hier das Gespräch in einer gekürzten Version wieder. Urs Zürcher stellte die Frage nach dem Schmerz. Wir feiern dieses Jahr 100 Jahre Aspirin. Hat unser "Sieg" über den Schmerz auch unsere Einstellung zur Ekstase verändert.

Esther Fischer-Homberger (E. F.) kann sich das gut vorstellen. Die alte Medizin sah den Körper als ein Gefäss für Säfte. Die neue Medizin brachte die Idee des Organismus, der fast maschinenartig konstruiert ist. Diese Idee ist natürlich sehr anti-ekstatisch. Auch das Leiden durch Fasten (Askese) gründe nicht mehr auf "ekstatischer Basis", es gehe viel mehr darum, mit weniger mehr zu bekommen.

Das Fasten sei fast ein Äquivalent zur Leistungsgesellschaft, so Jürg von Ins (J. I.). Es sei keine "widerständige" Aktion. Durch weniger Konsumation (Sparen), schaffe man sich Abwechslung, eine Sinnlichkeit durch Verzicht. Auch dürfe man die bei uns geläufigen Freitag- und Samstagabendexzesse mit Ekstase verwechseln. Hier gehe es um Kompensation.

Was wäre, fragte jemand aus dem Publikum, wenn bei uns die Ekstase gelernt werden könnte? J. I. blieb realistisch. Diese Gruppe von Leuten würden zu einer Sekte. Die gesellschaftliche Distanzierung wäre gross. Dass die Aufklärung auch ein Segen für unsere Gesellschaft gewesen sein könnte, bestritt er.

Sie diskutierten den Wert der "Neuschöpfung", die Möglichkeit nach einem Zusammenbruch, ein ganz neues Wesen zu sein, indem man den vorherigen Zustand sich nicht mehr vergegenwärtigen kann. Bei uns ist die Adoleszenz eine lange gleichförmige Phase. Nur Weiterbildung und Karriere seien vorgesehen. E. F. bestätigte, dass für die 30er, 40er und 50er kein neues Schema vorgesehen sei. Es gebe doch durchaus Menschen, die erst nach 60 zur Blüte kommen. Mit 18 sei bei uns das Leben gelaufen, bemerkte J.I. trocken. Aus der Sicht der Psychoanalytikern verschiebt sich das eher auf 30. Nachher käme immer wieder dasselbe hoch, weil keine Wandlungen vorgesehen sind.

Das Nachtessen vom 16. April findet wieder im gewohnten Rahmen am Gartenweg statt. Wenn jemand Lust auf das Kochen hat, soll mir das doch melden. Ich versuche, jemanden aus dem Literaturbetrieb an den Tisch zu holen (evt. Beat Sterchi), um gemeinsam die Publikumssituation der Literaturproduzierenden zu reflektieren. - Ganz anderes Thema zum Schluss: Der Salon hat immer irgendwo zwischen privatem und öffentlichem Raum stattgefunden und hatte ein "geschlossenes" Publikum. Vom 26. März bis zum 16. Mai findet im Kunsthaus Aarau eine Ausstellung statt zum Thema SALON (als kunst- und kulturgeschichtliches wie auch aktuelles Phänomen).

Wer die Protokolle per e-mail haben will, soll mir doch seine Adresse schicken (alilum@bluewin.ch). Wer die Protokolle überhaupt nicht mehr erhalten will, soll mir doch das auch mitteilen. Mit lieben Grüssen, Adi.