DAS KULTURKABINETT



Protokoll vom 11. März 99

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Nachtessen am Gartenweg

Nach dem 25. zusammenstoss vom 22. Januar hier das Protokoll des Abends und eine Einladung zum Nachtessen vom Freitag, 19. Februar, 19 Uhr. Es trafen sich Judith Albisser, Adi Blum, Iris Blum, Judith Huber und Thomas K. J. Meyer (als geladener Gast). Nachtessen: ein absolut exzellentes Randengulasch.

Der Abend begann mit einem Blick in die Partitur von Heinz Holligers "Psalm", eine Komposition für gemischten Chor, welche Iris mitgebracht hatte (siehe Beilage!). Wie ist das lesbar? Iris wird die Partitur als Mitglied des "Vocativ-Chor" umsetzen. Die Mitglieder des Chors haben sich nicht auf das Lesen solcher Partituren spezialisiert. Da stellen sich Fragen.

Thomas Meyer (38) erzählte uns, wie er zum Komponieren gekommen ist. Erst komponierte er für sich, dann für Ensembles, bei denen er mitspielte, dann auch auf Auftrag. Das Komponieren von Musik für Orchester - oder Chöre - erfordert viel Know-How, weil es schlussendlich musikalisch-kollektive Prozesse sind, anders als zum Beispiel beim Malen eines Bildes, oder beim Schreiben eines Romans. Der Komponist muss die Codes (Notation) kennen, die die Interpreten kennen. Er muss Entscheidungen treffen können, was die Instrumentierung betrifft, d.h. was für eine Klangfarbe er anstrebt.

Zwischenfrage von Judith A.: Gibt es Komponisten, die nur ihre eigenen Codes kennen? Antwort von Thomas: Was das Handwerk betrifft, nein. Was ästhetische Fragen betrifft, durchaus. Dann ging es los mit der Abgrenzungsfrage: Was ist E-Musik (ernsthafte Musik), was ist U-Musik (Unterhaltungsmusik)? Die Antwort im üblichen Sinne: U-Musik ist Gebrauchsmusik, E-Musik hat keine Funktion, ausser eine ästhetische...

Diese Unterscheidung ist eine europäische Erfindung, fand Adi, die einem Glauben ans Genie entspringt. Der einzelne Mensch wird wichtiger gewertet als der gesellschaftliche Kontext. Vor der Zeit der Renaissance, so Thomas unterstützend, komponierten 90% anonym. Heute ist das undenkbar. Die Grenze zwischen E-Musik und U-Musik sind verwischt. Auch typisch E-musikalische Werke variieren in Bezug auf ihre "Popularität".

Das ganze wäre ja auch kein Problem, meinte Iris, wenn damit nicht eine Wertung verbunden wäre: "ernsthaft" meint kultiviert, "unterhaltend" meint weniger kultiviert. Thomas machte die Probe aufs Exempel. Er spielte uns einen Ausschnitt aus Lanterns von Michael Finnissy (eher experimenteller Charakter) und einen Ausschnitt aus Catana von Edward Dudley (eher gefälliger Charakter) vor und fragte uns, wenn beide Werke aufgeführt würden, welches Konzert wir eher besuchen würden. Judith H, Judith A und Adi wählten Finnissy, Iris Dudley. Es wäre vermessen, hier von verschiedenen Graden von Kultiviertheit zu sprechen!! (Buchtip: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede; suhrkamp, Frankfurt: 1993)

Zurück zu Thomas. Er besuchte die Jazz-Schule, das Konsi und ging dann nach England, um Komposition zu studieren, weil das in der Schweiz nicht möglich war. Nun lebt er von Kompositionsaufträgen, unterrichtet, spielt und bekommt Tantiemen von der SUISA.

Was für eine Rolle spielt die "Audienz" (der Begriff von Thomas), die Zuhörerschaft, wenn komponiert wird? Adorno unterscheidet in seiner "Einführung in die Soziologie der Musik" vier verschiedene Zuhörer:

1) der Experte

2) der gute Zuhörer

3) der Kulturkonsument

4) der emotionelle Zuhörer.

Das ist nicht ganz ungefährlich, aber bietet Stoff für die Diskussion. Sind die kognitiven Fähigkeiten die ausschlaggebenden? Judith A. zitierte Nietzsche: "Das Leben ohne Musik wäre ein Irrtum".

Musik sei für sie wichtig, meinte Iris, wenn sie sie betroffen mache. Sie habe schon geweint an Beerdigungen (sie kannte den Verstorbenen nicht persönlich) wegen der Musik. Adi erinnerte an die Szene in "Apocalypse Now" bei der Amerikaner in Vietnam bei einem Helikopterangriff auf ein Dorf der Vietkong Wagner-Musik einsetzten oder an die Marschtrommler, die früher Schlachten begleiteten. Die Musik wirkt nicht nur bei lauteren Gefühlen als Katalysator. Sind sich die Komponisten ihrer "Wirkungsmächtigkeit" bewusst? Thomas stritt die Verantwortung für die Wirkung, die ein Werk auf ein Publikum haben kann, ab. Wenn ein Werk einmal geschrieben ist, kann der Komponist keinen Einfluss mehr auf den Kontext nehmen, in dem es gespielt wird (oder nur in seltenen Fällen). Zudem kann man (soll man?) keine Gefühle (kriegerische und andere) verbieten.

Für wen schreibt Thomas denn seine Werke? Er stellt sich einen "Idealzuhörer" vor. Das kann ein Experte oder ein emotioneller Zuhörer sein (andere Komponisten denken da eher an den Aufführungsraum). Er ist sich sein erstes Publikum. (Zwischenbemerkung Iris: hehre Haltung!) Nach Abschluss der Kompositionsarbeit ist es ihm egal, wer die Musik hört (aber nicht, dass sie niemand hört).

"Who cares who listens" so heisst der Aufsatz von Milton Babbit, der in den 50er Jahren in Amerika für Aufruhr sorgte. Er argumentierte 1) die Musik ist eine Forschungsdisziplin wie z.Bsp. die Physik. Auch die Musik hat ein Recht auf Forschung. 2) die Musik verlangt einen hohen Standard des Zuhörers. Sie darf Expertenkult betreiben. Sie hat ein expandierendes Fachvokabular. 3) Nur in der Kunst und in der Politik betrachtet sich der Laie als Experte 4) die Universität soll eine tragende Rolle übernehmen. Anzumerken ist hier, dass Amerika minimale bis keine staatliche kulturellen Subventionen kannte, und der Aufsatz darauf abzielte, dies zu ändern.

Es fiel uns nicht schwer Gegenargumente zu finden: 1) es ist ein sehr elitärer Anspruch. Nur einigen wenigen wird der Zugang zur Musik gewährt. Es entwickelt sich ein nicht wünschenswertes Spezialistentum. 2) Es fehlt der Bewegungsaspekt und der emotionale Aspekt. 3) Ein Elfenbeinturm (dies gilt für jede Disziplin) entpolitisiert das Anliegen. 4) Die "Grammatik" des Zuhörers wird vergessen. Der Komponist vernachlässigt ein wichtiges Potential.

Judith A. gab zu bedenken, dass es ein extremes Umfeld braucht, um sich den Extremen zuzuwenden. Eine aufs Experimentieren ausgerichtete Kunst oder eine, die sich auf ihr Publikum ausrichtet? Es gibt Architekten, die ein Leben lang nie ein Haus gebaut haben, der Architektur aber wichtige Impulse gegeben haben. Kann das auch für einen Komponisten gelten? Who cares who listens? Thomas meinte, wenn er fünf Jahre lang kein Publikum hätte (mindestens 1 Person!), dann würde er mit Komponieren aufhören.

Das nächste Nachtessen am 19. Februar ist als ein geselliger Abend geplant. Der zusammenstoss veranstaltet vom 10. bis 14. März in der BOA, Luzern, "Cadavre Exquis", ein Zyklus zum Thema KÖRPER. Diesmal sind über zehn KünstlerInnen dabei, die ausstellen. "The Changeling", das Bühnenstück, wird neu aufgearbeitet (mit Marie Cecile Reber) und fürs Forum vom 11. März (EKSTASE & ASKESE) haben wir Esther Fischer-Homberg (Körpergeschichte) und Jürg von Ins (Ethnologie und Religionswissenschaftler) gewinnen können.

Nun erlauben wir uns, Euch (und auch die Menschen vom Cadavre) einzuladen, um eine Stunde lang Adressettiketten aufzukleben (ist übrigens sehr anregend fürs Gespräch). Ich erhoffe mir auch Impulse für die Fortsetzung unserer "Salonabende". Auch könnten wir über zukünftige Projekte informieren, austauschen.

Der März steht dann ganz im Zeichen von "Cadavre Exquis" und lade Euch herzlich ein, in die BOA zu kommen. Der 11. März ist ja sozusagen eine Veranstaltung des "Nachtessen am Gartenweg" (Urs Zürcher organisiert). Im April geht´s weiter im üblichen Rhythmus.

Wer die Protokolle per e-mail haben will, soll mir doch seine Adresse schicken (alilum@bluewin.ch).Wer die Protokolle überhaupt nicht mehr erhalten will, soll mir doch das auch mitteilen. Mit lieben Grüssen, Adi.