DAS KULTURKABINETT



Protokoll vom 27. November 98

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Nachtessen am Gartenweg

Nach dem 23. zusammenstoss vom 27. November hier das Protokoll des Abends und eine Einladung zum Nachtessen vom Freitag, 18. Dezember, 19 Uhr. Es trafen sich Judith Huber, Claudius Weber, Carina Braunschmidt, Claudia Fischer, Daniela Bühler und Adi Blum. Der kulinarische Beitrag (wie angekündigt): Kartoffelgratin mit Vacherin und Lauch.

Ist das Performance-Publikum ein anderes Publikum als das anderer Bühnenkünste (Theater, Musik etc.)? Eine schlüssige Antwort wurde nicht gefunden, vielleicht auch nicht gesucht. Es ging vielmehr grundsätzlich um die Performance, ihre Wirkung, ihre Vielfältigkeit. Tatiana Witte und Christine Bänniger, welche als aktive Performerinnen eingeladen worden waren, hatten leider kurzfristig abgesagt, und so mussten wir als Diskussionsgrundlage mit einem von den zwei Frauen fiktiv mit sich selber geführten Interview auskommen.

"Eine junge Frau stemmt die tätowierten Arme in die Hüften und brüllt sich ihren Männerfrust aus dem Leib. Plötzlich lässt sie sich auf den Boden fallen, um dann mit leiser Stimme die Neurosen ihrer Katzen zu beschreiben. Das Publikum im New Yorker "Nuyorican Poets Cafe"' tobt. (...) Die Teilnehmer der Slams wurden aufgefordert, ihre Texte in einer Performance vorzutragen. Zufällig aus dem Publikum ausgewählte Richter bewerteten die Darbietungen mit Noten, die übrigen Zuschauer gaben ihrer Meinung mit lauten Kommentaren Ausdruck und warfen auch mal Bierflaschen auf die Bühne, wenn der Unterhaltungswert der Vorführungen zu wünschen übrigliess. (...) Der jährliche Höhepunkt sind die Team-Meisterschaften. Die Teilnehmer qualifizieren sich in regionalen Vorausscheidungen und treten in Vierergruppen zum nationalen Finale an, das in grossen Hallen vor mehreren tausend Zuschauern stattfindet. Die Regeln sind ausgeklügelt. Die Notenskala bewegt sich zwischen null und zehn. Überzieht ein Dichter das Zeitlimit von drei Minuten, erhält er einen Strafabzug von 1,25 Punkten. Das Mitbringen von Haustieren und Musikinstrumenten auf die Bühne ist strengstens verboten." (tagesanzeiger 28.07.98)

Voll Begeisterung erzählte Carina von den Slam-Poetry Abenden, die sie in Berlin erlebt hatte und meinte, das wäre doch auch etwas, was man hierzulande lancieren könnte. Doch wer würde auftreten, fragte man sich, wenn sich das Publikum wie ein reissendes Tier verhalte? Alles sei moderater hier, wurde entgegnet, die auf der Bühne und auch das Publikum.- Also eine geduldigere Form von Literatur-Performance? Wer weiss.

Dann las Judith den Text von Tatiana Witte vor, den ich hier zusammenfassen will:

ZUSAMMENFASSUNG - ein fiktives Interview; mit Heaven unlimited GmBH

XY: lhr kommt alle aus der bildenden Kunst. Ist das in eurer Performance-Arbeit sichtbar?

BH: Ja, ich denke schon. Das Bild hat einen elementaren Stellenwert. Wir gestalten den Raum während einer Performance zum bewegten Bild, eher noch zur 3-dimensionalen Installation, in der wir uns bewegen und somit Teil davon sind.

XY: Wo liegt der Unterschied zwischen Bildender Kunst und Performance für euch?

BH: Der grösste Unterschied liegt darin, dass wir in der Performance mit unserem Körper Bestandteil der Arbeit sind. Wir sind nicht ausschliesslich ,,Bildende", sondern auch ,,Bild". Was uns beschäftigt, können wir hier direkter umsetzen, mit unserem eigenen Körper. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass für das Publikum in der Performance ein Prozess im Mittelpunkt steht, nicht ein Produkt. Die Zeit, die wir dazu benötigen, entspricht unserem ganz persönlichen momentanen Empfinden - hat somit auch keine unterhaltende Absicht. Es fordert uns, wie auch die Zuschauenden, heraus, sich Zeit zu nehmen, Lange-Weile zu haben.

XY: Eure Arbeit beinhaltet eine klare Choreografie - ist das kein Widerspruch zu eurem Anliegen?

BH: Die grosse Herausforderung für uns ist, in der Choreografie ganz stark mit dem eigenen Handeln verbunden zu sein. Aus der Sicht der Betrachtenden könnte man es vielleicht auch so formulieren: Die Handlung, das Bild ist sichtbar. Lässt man sich genügend Zeit, taucht das Unsichtbare, Unbenennbare auf, das zwischen uns liegt durch unsere persönliche Verschiedenheit. Ich denke, gerade das Unsichtbare können wir in unserer Performancearbeit durch die Choreografie verstärken.

XY: Wie ernst nehmt Ihr euch und eure Arbeit?

BH: Natürlich sehr ernst! Das heisst aber überhaupt nicht, dass die Performance ausschliesslich einen ernsten Charakter haben darf. Wir versuchen schon, uns an wesentliche Dinge heranzutasten, aber ohne Lust läuft gar nix. Bei der Entwicklung einer Performance gehen wir eigentlich immer von persönlichen Gelüsten aus. Sei´s aus der Bewegung, Freude an Kleidern, Gegenständen...

Claudius hätte gern etwas mehr Inhaltliches gehört. Die Fragen und Antworten würden sich doch sehr auf der formalen Ebene bewegen. Heaven unlimited GmbH: Ist da ein versteckter Zynismus drin? Aber es sei schon so, dass die Performance von der Bildenden Kunst herkomme. Es gehe darum, dass die Realität vor einem Publikum vollzogen werde. Signers Sprengungen zum Beispiel: es brauche zur Performance immer das Quantum reale Gefahr - eine Hollywood-Sprengung (oder eine Sprengung im Theater) sei da anders. Hier passiere es "nur" für das Bild.

Eine "klassische" Performance sei etwa die von Ruedi Schill, der vor Publikum Gegenstände heranträgt, sie im Raum arrangiert und am Schluss steht die Installation. Die Subjektivität des Künstlers sei wichtig. Er spielt vom Ansatz her keine einstudierte Rolle. Wenn zwei oder drei Menschen daran beteiligt seien, brauche es natürlich Abmachungen oder eben: eine Choreografie.

Wir diskutierten den Ursprung der Performance. Da liesse es sich darüber streiten, ob die Performance eher eine junge Form sei (60er/70er Jahre), oder ob die Aktionen der Futuristen, Dadaisten und Surrealisten schon Performances waren. Oder ob die Rituale des Schamanismus allem zu Grunde liege. Beuys wurde oft als Schamane bezeichnet. Claudia erläuterte. Der Schamane kommt durch Trance in einen nicht alltäglichen Zustand und holt so aus einer anderen Welt (Heils-)Botschaften für die diesseitige. Er geht für andere auf spirtuelle Reisen. Neben der wissenschaftlichen gibt es bei der Performance auch eine mystische Ebene, welche durch rationelles Diskutieren nicht erfasst werden kann, so Carina.

Etwas sei fast allen Performances eigen: Man wisse nie, was man zu erwarten hat, und wie man nachher heimkommt, ganz glücklich oder enttäuscht. Ist Performance erlernbar? Carina erzählte von einer Performance in der Kantonsschule Alpenquai, bei der der Lehrer arg in Bedrängnis kam, als eine Schülerin sich auf das Lehrerpult setzte, laute Musik und ein Mix, zusammengestellt aus verschiedenen Nachrichtensendungen, laufen liess, dann Bierflaschen zerhämmerte... Claudius und ein Kollege sagten ein Theater an, liess das Publikum in die Aula kommen, und die zwei assen auf der Bühne ihre Kantinenmenüs.

Der "Einmaligkeitscharakter" der Performance erschwert eine schulische Systematisierung. Improvisierte Musik lässt sich auch nicht wiederholen und "leistungsmässig" beurteilen und ist wohl daher nicht im Lehrplan unserer Schulen. Was bei einer Performance bleibt ist die Erinnerung. Sie ist immateriell. Immer wieder anders, undefiniert.

Video-Performance, Tanzperformance, Bewegungsperformance... Carina erzählte von einer Performance in München mit zwanzig Technikern und drei Theaterleuten. Sie behandelte das Leben der Jennifer Ridley, welche mit zwanzig Jahren beschloss, sich selber, ihr ganzes Leben auf dem Internet auszustellen. ANNA X - ZAP THROUGH MY LIFE war für sie, die eine Theaterausbildung genossen hat, eine schwierige Sache. Keine imaginierte Situation und Figur waren ihr gegeben. Und doch hatte der Anlass sehr viel mit Theater zu tun. "Seltsame" Bühnenabende werden häufig Performance genannt. Der Begriff "Performance" ist ein Freiraum, fasste Daniela zusammen.

In Potsdam musste Carina am Theater ein Formular ausfüllen. Für SchauspielerInnen gab es bei der Rubrik selbständig/nicht selbständig erwerbend nur ein Feld: nicht selbständig erwerbend. Die SchauspielerInnen werden nicht überall als eigenständige Künstler wahrgenommen, sondern als Angestellte einer künstlerischen Leitung.

Claudius schlug zwei Themen vor, die wir einmal bei einem Nachtessen diskutieren könnten: 1) Hatten kulturgeschichtlich wichtige Künstler der Vergangenheit ein grosses Publikum? Bekamen sie es erst später und wenn ja durch wen? 2) Massenkultur: Was für Geschichten wollen alle immer wieder hören, was für Themen interessieren breit? Leben wir - etwas frei formuliert - in einer Zeit, in der alle die gleichen Bilder in sich tragen, mit denen sie Schmerz, Trauer und Glück assoziieren?

Ich lege als Nachbereitung diesem Protokoll noch ein Blatt bei, auf welchem ich Zitate aus dem Buch Performance Ritual Prozess (Elisabeth Jappe; Prestel: München - New York; 1993) zusammengestellt habe, welche sich mit dem Thema "Performance und Publikum" beschäftigen. Für den 18. Dezember versuche ich, jemanden aus der neuen E-Musik einzuladen. Hat die Musik nach John Cage ihr Publikum verloren? Für wen komponieren die zeitgenössischen Komponisten?

Wer die Protokolle per e-mail haben will, soll mir doch seine Adresse schicken (alilum@bluewin.ch).Wer die Protokolle überhaupt nicht mehr erhalten will, soll mir doch das auch mitteilen. Mit lieben Grüssen, Adi.