DAS KULTURKABINETT



Protokoll vom 26. Juni 98

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Nachtessen am Gartenweg

Nach dem achtzehnten zusammenstoss vom 26. Juni hier das Protokoll des Abends und eine Einladung für das Nachtessen vom Freitag, 17. Juli, 19.00. Die Runde war genügend gross, so dass wir nicht zum Spielen kamen. Es wurde rege diskutiert. Da waren Judith Huber, Judith Albisser, Claudia Fischer, Anita von Ballmoos (eben von Mexiko eingetroffen), Adi Blum, Daniela Bühler und Claudius Weber. Zu essen gab es Cuacamole und Salat.

Organisatorisch einigten wir uns darauf, den Modus (alle drei Wochen, freitags 19.00) beizubehalten. Neues Thema für die folgenden Treffen: PUBLIKUM. Dass es davon viele gibt, zeigte sich schnell: Jeder Anlass, jede Veranstaltung hat eins - und zwar immer ein anderes. Es ist gut erzogen oder unsensibel. Es johlt oder gibt sich verhalten. Wenn es bezahlt hat, will es etwas sehen oder hören. Es spaziert, steht, sitzt. Es emanzipiert sich. Es wird aktiv. Und alle werben um seine Gunst. Zu ihm gehören Bekannte und Unbekannte. Es kann schrumpfen und wachsen. Sein Verhalten ist wichtig. Viele wollen viel von ihm, weil sie mit viel berühmt sind. Es gibt ein Zielpublikum. Es gibt auch ein Testpublikum. Das neue Kultur- und Kongresszentrum in Luzem hat eines, das sagen darf, ob die Toiletten bequem zu erreichen sind. Die Akustik des Raumes wird von Maschinen getestet. Die sind weniger launisch.

Es trifft sich: Claudius Weber will diesen Winter eine EXPO 2+2 machen, in welcher das Publikum die Hauptrolle spielen soll. Viele seiner Arbeiten in seinem Kulturladen 2+2 waren ja Auseinandersetzungen mit dem Publikum und an diesem Abend las er uns einen Teil seiner vergnüglichen Ladendokumentation vor: 2+2 an der Gibraltarstrasse, Eröffnungsfest, Aufträge, Abriss, 2+2 an der Eisengasse, Eröffnungsfest, Aktivitäten...

Des weiteren wurde an diesem Abend ohne grosse Abschweifungen übers Publikum gesprochen, Ideen gesammelt und ausgetauscht. Adi erzählte über die Disziplinierung des Publikums, die seit der Aufklärung passiert ist. War das Publikum ehemals eher Teil eines karnevalesken Treibens ohne deutliche Unterscheidung zwischen Buhne und öffentlichem Raum, begann mit der Aufklärung eine Abgrenzung: Akteure versus Publikum. Das heutige Publikum wurde erfunden. Es lehrte seine Rolle zu spielen, es blieb auf Stühlen sitzen und wurde belehrt. Es wurde geschaffen. Damit stieg der Wert der Bühne und Bühnendarsteller. Erst ein aufmerksames Publikum gab ihnen die Möglichkeit, subtil und ernsthaft zu agieren (und zu agitieren).

Warum will jemand ein Publikum? Anita meinte, das grundlegende Gefühl sei, das Teilen-Wollen. Man hat etwas und will es mit den anderen teilen. Man erhofft sich Anerkennung. Man will, dass man sich auseinandersetzt, reflektiert.

Claudius fragte nach dem anonymen Publikum, das für einen Erfolg notwendig ist. Das grosse Publikum schreibt die Geschichte des Erfolges: Beispiel Cezanne, der für sich ohne Anerkennung gearbeitet hat, und erst später von schreibenden Gemeinden (u.a. den Kubisten) zu einem grossen internationalen Publikum getragen worden ist. Hier wurde ein Thema angesprochen, das im Verlauf des Gesprächs immer wieder wichtig wurde: Kultur versus Kulturvermittlung. Das, was gut ist, muss auch vemittelt/verkauft werden können.

Wenn Daniela am Journalistentisch neun Dossiers studiert, nicht viel Zeit hat, entscheidet häufig die professionelle Aufmachung eines Dossiers über Eintreten oder Nicht-Eintreten. Bei unprofessionellen Dossiers fürchtet man sich vor möglichen Schwierigkeiten mit den Absendern. Der Künstler muss also über die Fähigkeiten und die finanziellen Mittel verfügen, sich selber zu managen oder Leute kennen, die das für ihn tun. Der Zwischenhandel ist ein wichtiger und mächtiger Sektor einer verschriftlichten Kultur. Um mitreden zu können (und um nicht Kulturbarbar zu sein), muss man die Kommunikationsmittel beherrschen (Schrift, Schreibmaschine, Computer, Intemet). Ist es möglich, die Kulturvermittlung zu umgehen und wieder direkt mit dem Publikum zu "verhandeln"?

Das Publikum hat eine Energie. Judith Albisser erzählte von einem Rolling Stones Konzert. Das Publikum speist einen Anlass. Es findet ein Energieaustausch statt. Die Masse ist wichtig. Wie steht man als einzelner zu dieser Masse? Dies ist eine ethische Fragestellung: was ist das Menschenbild des Künstlers oder der Künstlerin? Mit welcher Haltung arbeitet er oder sie für die Öffentlichkeit? Sucht man z. Bsp. "den guten Leser" oder den Kunden? Unterscheidet sich hier der Auftrag z. Bsp. des Journalismus und der Kunst? Oder eben nicht? Daniela schreibt über das Grabtuch in Turin und erhält von Luzerner Katholiken empörte Leserbriefe. Warum hat sie den Artikel geschrieben? Es ist eine Geschichte, die sie nicht selber gewählt hat. Aber sie ist aktuell, und es gehört zu ihrem professionellen Auftrag, sie zu schreiben. Die äusseren Bedingungen sind gegeben. Sie muss sie erfüllen. Sie hat ein Zielpublikum und dazu gehören auch Grossmütter...

Daniela würde einmal gern an einem Abend das Leserprofil von LUHEU und der COOP-Zeitung vorstellen. Was kann man einem Publikum zutrauen? Bevormundet man es, wenn man mit seinen Traditionen bricht? Wieder einmal sprachen wir über den zuschauerlichen Wunsch des Suspension of disbelief, den Wunsch, Glauben-gemacht-zu-werden. Mit dem Schritt über die museale oder theatrale Schwelle verlässt man den Alltag und lässt sich auf das Gezeigte ein. Die Schwelle, so Claudius, ist nicht eine architektonische. Der Billettverkauf ist wichtig. Das Kaufen der Eintrittskarte ist ein entscheidender Akt. Hier fällt der Entscheid. Gibt es keine Karten zu kaufen, weiss man häufig nicht recht, ob das Beobachtete Spiel oder Realität sei. In Berlin entstehen Wahlbüros, der Wahlkampf wird professionell geführt, man macht Werbung mit dem Slogan: WÄHLE DICH SELBST!

Für das nächste Mal habe ich einen Aufsatz Hinweg vom Papier vom Medienphilosophen Vielem Flusser beigelegt. Er beschreibt darin eine neue Schreib- bzw. Lesesituation, die entstanden ist durch das "Hinweg vom Schreiben auf Papier" hin zum "Schreiben ins elektromagnetische Feld". Er spricht zwar vom Schreiben, aber die Grundsituation ist analog auch auf andere kreative Betätigungen zu übertragen: der Aufsatz gilt für alle die Gebiete, in denen der Computer anstelle von herkömmlichen Produktionsmitteln Schaffensgrundlage geworden ist.

Und wie immer Wer kein Protokoll mehr erhalten will, soll mir doch das sagen, auf Telefonbeantworter sprechen, schreiben. Mit lieben Grüssen. Adi.