DAS KULTURKABINETT



Protokoll vom 23. Januar 98

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Nachtessen am Gartenweg

Nach dem vierzehnten zusammenstoss vom 23. Januar hier das Protokoll des Abends und eine Einladung für das Nachtessen vom Donnerstag, 12. Februar, 19.00. Am 23. Januar war Herbert Meyer da. Das Thema: Physiognomik. Mitgegessen (Wurstsuppe als Gemüsesuppe getarnt) und mitdiskutiert haben Fritz-Franz Vogel, Claudia Fischer, Judith Albisser, Alexandra Frosio, Peter Troxler, Daniela Bühler, Paola Di Valentino, Judith Huber und Adi Blum.

Herbert Meyer ist Sozialpädagoge (Rodtegg). Er hat eine Ausbildung als Physiognom (nach Carl Hutter 1861-1911) gemacht. Er betont, dass er nicht praktisch als Physiognom tätig sei, das Gelernte ihm aber persönlich sehr hilfreich sei. Die Physiognomik ist nicht ohne weiteres auf das "Lesen" von Gesichtern zu reduzieren. Sie ist die Wissenschaft des Ausdruckes von Formen, Farben, Strahlung, Bewegungsabläufen, Natur und Mensch.

Zum Menschen gehören die Bereiche Kopf, Gesicht, Augenformen, Mimik, Gestik und Körpersprache. Die Physiognomik sucht die Sprache des Lebens. Ein Beispiel: wir betrachten einen Apfel. Wir schliessen auf Grund von Farbe und Form auf die Qualität der Frucht. Allgemeiner: Auf Grund von Form kann man (mit qualifizierter Beobachtung) auf den Charakter schliessen.

Diese Wissenschaft findet Anwendung in folgenden Bereichen: Eignungsabklärung bei Bewerbungen; Laufbahnberatung für Berufswahl, auch Beratung für Partnerwahl. Physiognomik hilft der Lebensgestaltung: physiognomische Selbstanalyse ermöglicht bewusstes Gestalten des Alltags, Peter verweist auf die Graphologie, die bei Eignungsabklärungen häufig beigezogen wird. Herbert sagt, dass die Physignomik im professionellen Bereich noch nicht weit verbreitet sei. Zudem geht es nicht an, auf Grund von eingeschickten Passbildern physiognomische Abklärungen zu machen. Für eine physiognomische Beurteilung ist die physische Präsenz des Gegenübers Bedingung. Die Wahrnehmung ist wichtig.

Unsere Anlage, so Herbert, nehmen wir von Geburt her mit, die Talente sind vorgegeben, was sich verändern kann ist aber die Ausstrahlung. Die Physiognomik nach Hutter beurteilt auf vier verschiedenen Ebenen:

1) Naturell 2) Kräfte Energien 3) Temperament 4) individuelle Kopf- und Gesichtsformen.

1) Das Ernährungsnaturell ist fleischlich. Es ist der eher ökonomische Typ.

2) Das Bewegungsnaturell ist athletisch, korpulent: der Sportler.

3) Das Empfindungsnaturell hat mehr Masse über den Augen: der soziale Typ.

Mischungen zwischen diesen drei Naturellen sind die Regel. Die verschiedenen Naturelle stellen Extrempositionen dar.

2) Vier Temperamente macht man fest: -der melancholische Grübler -der reizbare Choleriker -der beschwingte Sanguiniker -der nicht aus der Ruhe zu bringende Phlegmatiker

3) Es gibt Form und Wesen bildende Kräfte. Die Kraft formt, was die Form nachher zeigt. Das eine ist vom andern abhängig Die bestimmende Kraft ist der Magnetismus. Es gibt hier Längs- und Breitformen. Das Gebiet ist komplex. Deshalb stellte uns Herbert nur die wichtigste Kraft vor: die Helioda. Sie beinhaltet Liebe und ist schöpferisch gestaltend.

Wir sehen Bilder: -sympathische und unsympathische Gesichter dann

-Ghandi: er zeigt die friedvoll verändernde Kraft

-einen Politiker: er zeigt eine Kraft, die andere auf Trab hält.

-Himmler: er zeigt die verbrecherische Kraft

Einwand von Fritz: die Lichtführung auf den Fotografien sind suggestiv. Fotos sind trügerisch, verteidigt sich Herbert. Sie sind eigentlich ungeeignetes Darstellungsmaterial.

4) Das Gesicht ist in drei Bereiche eingeteilt: -die Stirn zeigt das Denkleben -das Mittelgesicht zeigt das Gefühlsleben/Seelenleben -das Untergesicht zeigt das Körperleben

Der Kopf / Oberstirn: Du. Scheitel: Gott. Hinterkopf: Ich.

Die Physignomik will keine Typologisierung, sondern den Menschen und seine Anlagen verstehen. Treffen, Gespräch und Gesprächsführung gehören zur Praxis. Natürlich ist die Analyse individuell geprägt. Der Selbsterkenntnisgrad des Physiognomen ist wichtig. Mit Physiognomie kann viel Unfug getrieben werden.

Damit wechselte die Diskussion auch auf ein brisantes Thema: Physiognomik und Rassismus. Herbert betonte, dass Hutter eine sehr anti-rassistische Haltung gehabt habe - seine Bücher seien von den Nazis verbrannt worden. Gefährlich werde die Physignomik dann, wenn mit einer jüdischen Nase (ausser Zweifel steht, dass Juden Nasen haben, und dass diese auch sehr speziell sein können) bestimmte Eigenschaften wie Habgier in Verbindung gebracht werden.

Fritz wollte wissen, ob es andere Völker gäbe, die auch Physiognomie beurteilende Systeme haben. Die Physignomik des Westen ist ja ein Kind des 19. Jh., des Vermessungsjahrhunderts (Bilder werden herumgereicht: Farbige die mit Messlatte im Hintergrund fotografiert worden sind.) Was für einen Geist belebt die Physiognomik des ausgehenden 20. Jh? Was für Menschen wenden diese Wissenschaft an? Alles integere? Soweit Herbert beurteilen kann, waren alle die mit ihm studiert haben integer.

Peter verwies auf die Möglichkeit der Computerauswertung: Kriterien und Daten werden eingegeben, die Beurteilung wird ausgedruckt. Er erläuterte wie heutige, Assessment-Zentren funktionieren (Zentren, in denen verschiedenen Tests gemacht werden zur Beurteilung eines Bewerbers. Die Firmen überlassen professionellen Beurteilern die Beurteilung). Graphologische Gutachten werden erstellt. Der Postkorbtest: der zu Testende muss die Post sortieren im Wissen, dass er eine Woche abwesend sein würde. Was delegiert er? Der zu Testende muss weiter fiktiven Bewerbern eine Absage machen. Rollenspiele werden gemacht. Als Beobachter sind Psychologen und andere Experten eingesetzt. Abschliessend wird bestimmt, wer förderungswürdig ist. Die Beurteilungen werden "ausgelagert", weil Fehlentscheide teuer zu stehen kommen könnten. Intuition ist gut: aber man muss differenziert erfassen (Fritz: Hier wird einfach Verantwortung abgegeben!).

Frage an Herbert: Kommen zwei Physiognomen auf die gleiche Beurteilung? Wie Zuverlässig ist das Verfahren? Herbert: Das Weltbild der Physiognomik baut auf die individuellen Fähigkeiten des einzelnen. Wenn ein Mensch dort eingesetzt ist, wo seine Stärken sind, dann ist es ihm wohl. Sie sollte aber nicht egoistischen Interessen und materialistischen Ansprüchen einzelner dienstbar gemacht werden.

Paola fragte, ob sich die Physiognomik dem Zeitgeist anpasst, oder ob sie statisch bleibt. Models der 20-er Jahren sahen anders aus als die 17- bis 18-jährigen Models von heute. Herbert meinte, die Veranlagung kommt mit der Geburt. Sie ist im Körper sichtbar. Die Knochen verändern sich nicht so schnell, das "Fleisch" ist von äusseren Bedingungen abhängig: eine schwere Vergangenheit zeigt sich in Runzeln und Narben. Das liege in der ganzen Natur: Tannen, die in die Höhe streben, kleine Mauerblümchen...

Bestimmte Merkmale, die nicht so häufig vorkommen werden ästhetisiert. Hier beginnt der Mythos der Schönheit: Mythos Jungbrunnen mit Jugendlichkeit als Ziel. Man kann sich auf die Spekulation einlassen: Die aktuelle Zeit wird vom Bewegungsnaturell geprägt, wir haben eine Zeit, in der Prozesse rasend schnell ablaufen. Wieder stellt sich die Frage, das, was man weiss, erfüllt sich immer. Braucht es dann die Wissenschaft überhaupt? Hitler war ein Verbrecher, man sieht es an seinem Gesicht. Aber dass Hitler ein Verbrecher ist, hat uns die Geschichte gelehrt.

Kann man denn am Gesicht den Verbrecher erkennen? Die Veranlagung zeigt sich in der Form. Ja, man kann. Aber Herbert wehrt sich gegen eine Typologisierung. Es gilt gesamtheitlich zu erfassen. Adi äusserte seine Bedenken gegen die Verwissenschaftlichung einer solchen "Erkenntnistheorie", durch die Verwissenschaftlichung würde das an und für sich gültige Wissen früher oder später instrumentalisiert und würde - da zweckfrei - auch zur Typologisierung, z Bsp. in der Verbrechensbekämpfung eingesetzt.

Was für einen Charakter haben missgebildete Menschen? Dies ist ein Gebiet, welches Herbert, der zur Zeit als Sozialpädagoge tätig ist, beschäftigt. Kann man von der Missbildung auf den Charakter schliessen? Wenn nicht, was für eine Bedeutung hat sie dann? Per Bild kann man jeden Menschen missbilden. Das Karikieren ist journalistische Praxis. Karikaturen in Zeitungen sind lesbar, man entziffert die Botschaft. Hier liegt die kulturelle Botschaft. Was ist bei körperlich missgebildeten Menschen die physiognomische Botschaft, kann man sich fragen. Seine Anlagen erkennen und ihn dort einsetzen, wo seine Fähigkeiten und Talente liegen, wäre die Antwort Hutters - nichts, was geschaffen worden ist, ist ohne Nutzen. Wem soll es nützen, das ist wohl die entscheidende Frage.

Das Lehrbuch zur Physiognomik Carl Hutters heisst: "Lehrbuch der Menschenerkenntnis, Körper-, Kopf-, Gesichts- und Augenausdruckskunde, Hutter'sche Physiognomik" von Fritz Aerni.

Für das Essen vom 12. Februar haben wir Nika Spaltiger eingeladen. Wir haben uns auf das Thema "Greenaway: Körper als Metapher" geeignet. Wir versuchen, den neusten Greenaway Film "The Pillow Book" aufzutreiben. Wer die Vorlage lesen will: "Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon". Wir diskutieren, was man sonst nur seinem Kissen anvertrauen würde. Wer würde diesmal für das Nachtessen sorgen?

Und wie immer: Wer kein Protokoll mehr erhalten will, soll mir doch das sagen, auf Telefonbeantworter sprechen, schreiben. Mit lieben Grüssen. Adi.