Computer und Sprache: Schreiben ins elektronische Feld

Hypertext

Als ich 1990 diesen Vortrag zum ersten Mal hielt — einen Teil habe ich kopiert, auch das eine Stärke oder Unsitte der Computertechnik — da stand hier der Satz: "Für das nichtsequentielle Schreiben, also Hypertext, wird es nach meiner Voraussage niemals Autoren geben". Meine Voraussage war falsch, denn inzwischen besteht die Welt aus Hypertext, oder zumindest das WorldWideWeb, welches für viele schon die Welt schlechthin bedeutet.
Der Computerwissenschaftler Tim Berners Lee konzipierte am CERN 1990 das WWW auf der und die ensprechende Programmiersprache HTML. Das war nicht für Literatur gedacht, sondern für das Strukturieren, Speichern und Auffinden wissenschaftlicher Texte. Doch wiederum hat die Maschine ihre Schöpfer überholt. Das WWW ist heute ein einziger, vernetzer, weltumspannender Hypertext von vielleicht 1 Milliarde Textseiten, von dem meine Home-Page und mein Londoner Tagebuch einen winzigen Bestandteil bilden.
Durch das Hypertext-Konzept löst sich die Linearität von Text überhaupt auf. Niemand liest mehr von oben nach unten, von links nach rechts. Der Fluss wird dauernd unterbrochen von Links, die mit Klick wieder in eine andere Welt führen. Zeit- und Gedankensprünge, die wir beim normalen Lesen intuitiv vollziehen, machen wir jetzt mit dem Klick des Zeigefingers auf die Computermaus. Aus dem Lesen ist Surfen geworden.
Natürlich ist auch dieses Konzept so neu nicht, das Medium Zeitung ist längst als eine Art Hypertext strukturiert, in Leserinnen und Leser durch Bildlegenden, Leads und Textfragmente surfen.
Auch in unserem Kopf ist jedes Wort ein Hyperlink zu einem inneren Bild. Lese ich "Baum", so assoziiere ich das Bild eines Baumes. Meinen Baum sozusagen. Hypertext ist die Automatisierung eines sozusagen natürlichen Verhaltens im Umgang mit Text. Damit delegieren wir weiteres Stück unserer Sprachkompetenz an die Maschine. Die Assoziationen werden vorprogrammiert und vorgeschrieben. Statt in unsere inneren Bilder tauchen wir durch die Links in den multimedialen Mischmasch des WWW.
Ted Nelson, Autor des Kultbuches "Computer Lib", prägte den Begriff Hypertext schon 1965. Er schreibt in einem Text "Computopia Now!": "Ich will jedes Buch, und ich will, dass es in dem Augenblick, wo es gebraucht wird, in meine Hände springt." Klick! Computopia ist schon Alltag. Es gehtalso beim Text nicht mehr ums Lesen, sondern ums Haben. Das e-Book, welches das ermöglichen wird, jeden Text zu jeder Zeit zu haben, und vor dem sich Verleger und Buchhändler fürchten, ist allerdings noch kein Renner auf dem Markt. Warten wir?s ab.
Hypertext und das Zerbrechen der Linearität beim Schreiben wie auch im Text selber ist sicher ein dramatischer Eingriff in unsern Umgang mit Sprache. Selbst im Briefverkehr, im E-mail, hat sich eine neue, nichtlineare Kommunikationsform entwickelt, indem wir dem Absender seine Fragen zurückkopieren und und unsere Anworten in seinen Text mischen. Wir schwatzen durcheinander, nebeneinander, zwischen den Zeilen und aneinander vorbei.

Internet-Literatur

Dass sich in Hypertext auch eine neue Sparte von Literatur entwickeln wird, wurde mir schon bei der Teilnahme am ersten deutschsprachigen Internet-Literaturwettbewerb 1996 bewusst. Es wurde nicht nur Text verlangt, sondern auch visuelle Gestaltung und originelle Programmierung von Hyperlinks. "Den grössten Anklang fanden bei der Jury Beiträge, die aus ihren Links mahr als Fussnoten und Querverweise machten, bei denen man mit der Maus in immer neuen, überraschenden Ebenen herumfuhrwerken konnte, fast in der Hoffnung, endgültig den Überblick zu verlieren und auf ewig in einem Text verlorenzugehen", schreibt ein Mitglied der Jury.
Auf dem Internet bilde sich ein neuer Typus Schriftsteller heraus, den nicht nur Literatur interessiere, sondern auch Computersprachen wie Java und HTML. Auch das eigentlich eine alte Botschaft. Denn jedes Neue Medium hat seine eigene Ästhetik geformt, Tontafeln die Keilschrift, das antike Theater das Drama, die Leier die Lyrik, Papier und Bleisatz den Roman und die Zeitung, das Radio das Hörspiel, das Fernsehen die Seifenoper. Die Computermaus hat uns Hypertext geboren und die Renaissance der Bilderschrift eingeleitet.
Beim Medium Computer schliesst sich ein Kreis: Programmierer haben für die Arbeit an ihrem Code die Texteditoren erfunden und dabei entdeckt, dass ihre Maschine auch ein Textwerkzeug sein könnte. Programmierer haben das Hypertext-Konzept entwickelt. Der postmoderne Hypertext-Autor muss nun auch ein Programmierer werden, um seinen nichtlinearen und multimedialen Text mediengerecht zu gestalten. In einer SF-Satire, die ich 1981 in Klagenfurt vorgetragen habe, prognostizierte ich bereits den "Literaturprogrammierer", da lag ich nun wohl richtig.
"Der neue Autor wird vom allwissenden Erzähler zum Reiseleiter in künstlichen interaktiven Umgebungen, der die Navigation durch thematische Räume anleitet und Orientierung bietet während des Aufenthalts in einem Tableau von Erlebnismöglichkeiten", schreibt Wolfgang Neuhaus in einem Essay in Telepolis, dem "Magazin der Netzkultur".
Radikaler Hypertext sei wohl eine Verlockung für soche, die nicht schreiben können, "eine Art progressiver Literatur zu machen, ohne etwas schreiben zu müssen", schreibt Dieter Zimmer im Buch "Die Bibliothek der Zukunft.
Oder, wie das Peter Weibel in einem griffigen Schlagwort zum dritten deutschsprachigen Internet-Literaturwettbewerb zusammenfasst: "Der Autor wird zum Algorithmus".
Die Tendenz auf dem Netz geht glaube ich weniger zurück zum Oralen, zum lebendigen Erzählen, sondern eher zu einer von der Maschine und ihren Möglichkeiten diktierten, programmierten Sprache: Kopiert, automatisch generiert und korrigiert, mit grafischem Design aufgepeppt und durchsetzt mit den Hieroglyphen der modernen Bildersprachen.

home