Neurobiologie des Lesens

von Marc Wittmann

 

<Abstract>

Lesen ist eine einfache Sache - und zugleich ein höchst komplexer Vorgang, der die verschiedensten Gehirnfunktionen mit einbezieht und aktiviert. Darin liegt es begründet, dass mannigfache Lesestörungen vorkommen können. An reiner Alexie Leidende beispielsweise sehen die Schrift, doch sie können die einzelnen Buchstaben und Wörter nur mit Mühe erfassen. Dem zugrunde liegt eine Verletzung im linken Hirnlappen, wo die Analyse der visuellen Inputs geschieht.

Es gibt kein eigentliches Sprachareal im Gehirn. Verschiedenste Zentren mit unterschiedlichen Funktionen, in beiden Hirnhälften, sind beim Lesevorgang aktiv beteiligt. Als Teilkompetenzen sind zu unterscheiden: 1. die lexikalische (das Wortwissen), 2. die semantische (das Bedeutungswissen), 3. die syntaktische (grammatisches Wissen), 4. die sprachlautliche (Kenntnis der Ausspracheregeln - gerade auch beim Lesen!), die prosodische (die Sprachmelodie betreffend) sowie die orthographische Kompetenz. Hinzu kommen die gespeicherten Erinnerungen, die vorhandene Kenntnisse und Informationen für den Verstehensprozess zur Verfügung stellen. Visuelle Informationen werden in der linken Hirnhälfte verarbeitet, das Kontext-Verstehen ist rechtshemisphärisch. Störungen in diesem Zentrum können dazu führen, dass davon Betroffene nur mehr wortwörtlich, ohne Subtext und Ironie verstehen.

Die hemisphärische Dominanz ist bei Schriftsprachen unterschiedlich. Die alphabetische Sprache, wie wir sie kennen, ist linkshemisphärisch, weshalb wir sie von links nach rechts schreiben; die konsonantische Sprache des Arabischen und Hebräischen, die stärker kontextabhängig sind, sind rechtshemisphärisch und werden von rechts nach links gelesen. Die chinesische Bilderschrift entzieht sich diesem Schema und kann von oben nach unten gelesen werden. Entsprechend unterscheiden sich die Verarbeitungsprozesse und die damit einhergehenden fundamentalen Störungen.

Lesen in seiner Gesamtheit, will es gelingen, verbindet mehrere neuronale Systeme miteinander: es setzt sich zusammen aus Reizaufnahme (Wahrnehmung), Bearbeitung (Lernen, Assoziation, Gedächtnis), Bewertung (Emotionen) und willentlicher Aktion (Motorik, Absichten). Insbesondere die Reizaufnahme ist dabei von interessanter Komplexität.

Das Hirn kennt ein zeitliche Organisation, die wesentlich die Werte 30 Millisekunden und 3 Sekunden umfasst. Sie sind fundamental für Wahrnehmung und Verarbeitung.

Auf der Netzhaut wird an den Photorezeptoren das eingefangene Licht in neuronale Energie umgewandelt. Dabei müssen eine Vielzahl von Reizqualitäten übermittelt werden. Die Netzhaut besitzt dafür zwei Areale mit unterschiedlicher Beschaffenheit. Im Zentrum ist die Fovea centralis, in der die Sinneszellen sehr dicht angeordnet sind. Sie ist besonders leistungsfähig, zugleich aber träge, wogegen die Peripherie der Netzhaut eher verschwommene Bilder liefert. Analog dieser Zweiteilung ist das Auge über zwei unterschiedliche Leitungsbahnen mit den Verarbeitungszentren verbunden. Eine magnozelluläre Bahn verarbeitet schnell und ist daher prädestiniert für Bewegungswahrnehmung. Wogegen die nur vom Zentrum wegführende parvozelluläre Bahn eine höheres räumliches Auflösungsvermögen mit grösserer Trägheit verbindet. Liest das Auge, so vollführt es nun Blicksprünge innerhalb des Lesens; es fixiert einen Punkt, springt und fixiert wieder einen Punkt. Die Trägheit der parvozellulären Bahn wird dabei durch den „Bewegungsmelder“ der magnozellulären Bahn unterdrückt, das heisst die P-Zellen nehmen das neue Bild auf, obgleich das alte noch nicht abgeklungen ist. Es bedarf also beider Zelltypen für dieses Wechselspiel.

Hier kommt auch die zeitliche Organisation ins Spiel. Lesen bedeutet stets lautes Lesen, auch wenn es längst verinnerlicht ist. Dieses Verinnerlichen ist zentral beim Lesen-Lernen. Tests mit akustischen Klickreizen ergeben beim Menschen (zwischen 20 bis 30) einen Grenzwert von 30 ms, der erlaubt, zwei Signale als verschiedene wahr zu nehmen und auseinander zu halten. Kürzere Intervalle werden als ein Signal gehört (wobei Kleinkinder und ältere Menschen höhere Werte haben). Diese zeitliche Ordnungsschwelle spielt mit beim Lesevorgang. Tests mit Kindern, die unter Sprachentwicklungsstörungen leiden, ergeben höhere Werte, geben also Hinweis auf ein Zeitverarbeitungsdefizit, das sich als Leseschwäche bemerkbar macht. Die 30 ms (als kleinste Wahrnehmungseinheit) benötigen wir (durchschnittlich) für die Wahrnehmung eines Buchstabens.

Das zweite Strukturintervall beträgt (cirka) drei Sekunden und steht für eine Gliederung unseres Wahrnehmungsprozesses. Alle drei Sekunden geht ein „Zeitfenster“ für Informationsverarbeitung auf. In diesem Takt gruppieren wir Musik, Verszeilen, Satzspiegel. Lese- und Atempausen bei mündlicher Rede besitzen in etwa diese Länge. Unsere neurobiologische Verfassung hätte demnach unsere poetischen Leistungen mitgeprägt. Die Kultur steht in Einklang mit jener.

(bm)

back



[ home [ salongespräche | vorschau | essays | archiv | biblio/links| gäste | kontakt ]