Lesen und Gesellschaft.  Von Frankenstein zu Star Gate

 

von Felix Keller


Gesellschaft 2

Noch lesen wir Gebrauchswanweisungen

In der Tat ist die Wirkung von Bilderschrift, Schrift und Bild zugleich, nicht einmal ein historisch neues Phänomen. Ich erinnere hier an die ägyptische Hieroglyphenschrift. Deren Entzifferungen stellte bekanntlich lange Zeit scheinbar unlösbare Schwierigkeiten. Das Problem lag darin, dass die Bildzeichen als unmittelbare Referenz dessen interpretiert wurden, woran sie erinnerten. Ein Zeichen, das wie ein Vogel aussieht, sollte auch Vogel bedeuten.[24] 1822 publizierte dann Jean François Champolion die Entzifferung der Hieroglyphenschrift: er hatte erkannt, dass die Hieroglyphen ihren Weltbezug nicht über eine unmittelbare Referenz auf die Welt erhielten, sondern lediglich, indem sie sich von anderen Hieroglyphen unterschieden und so zu Zeichen wurden: dans la langue, il y a ne que des différences, wird der Linguist Ferdinand de Saussure denn auch Jahrzehnte später diese Einsicht theoretisieren. Mit anderen Worten: die Hieroglyphen stellen nicht Zeichen für etwas Bezeichnetes dar, sondern es handelt sich um eine eigentliche Lautschriften, um eine visible language wie jede andere Schrift auch (bekanntlich hat ironischerweise Adorno gerade das Umgekehrte mit unserer Schrift gemacht). Gerade diese Erkenntnis hat auch Freud geholfen, das Unterbewussten zu entschlüsseln: natürlich ist es bildhaft strukturiert wenn wir Träumen, aber es handelt sich im wesentlichen nicht um Weltbezüge, sondern um eine Schrift. Mit anderen Worten ein Traumbild hat nicht dieselbe Referenz wie eine Fotografie sondern ist Zeichen, und der Traum muss als ein System von Zeichen gedeutet werden. Diese Einsicht hat in der Folge Jacques Lacan bekanntlich radikalisiert, indem er die These vertrat, dass das Unterbewusstsein im wesentlichen sprachlich strukturiert sein. Mit anderen Worten: Wir sind uns unser eigenes Buch.

Der Ägyptologe Jan Assmann bringt nun aber eine weitere Interpretation der Hieroglyphen ins Spiel, die hier von besonderem Interesse ist: das «alte Ägypten»  hatte durchaus eine Gebrauchsschrift im gegenwärtigen Sinne entwickelt, ohne dass die Hieroglyphen selbst verschwunden wären. Dies unterstützt für Assmann die These, dass der Weltbezug der Hieroglyphen nicht bloss in ihrem semantischen Bezug liegt, sondern auch in ihrere Materialität. Während eine Schrift im Prinzip unabhängig ihrer materiellen Erscheinung ist - beispielsweise kann ein R auf Papier geschrieben, in Wachs geritzt oder elektronisch codiert werden ohne seine Bedeutung zu verlieren - bedeutet die Art und Weise des Erscheinens einer Hieroglyphe selbst auch einen Weltbezug der eigenen Art, die über die Zeichenhaftigkeit der Hieroglyphen hinausgeht.. Die in Stein gemeisselte, vor allem in Tempelbauten erscheinende Hieroglyphen vergegenwärtigen damit auf eine ganz und gar bestimmte Weise eine Gesellschaft, nämlich diejenige eines religiösen und politischen Zelebrierens. Bild und Schrift durchdringen sich gegenseitig, erklären sich gegenseitig und erschaffen so eine eigene Welt. In den Worten Assmanns:

So entstehen als ein in der  Geschichte der Kunst einzigartiges Phänomen jene komplesen Lesebilder, die nicht nur das innere Auge, sondern auch das innere  Ohr ansprechen und in dem Reichtumg der Verbindung von Bild und Schrift weit über das hinausgehen, was selbst auf dem Gebiete der modernen Bildnarrativik (Comics) möglich ist.[25]

Es ist unschwer zu erkennen, dass in der Serie von Bildern, von der wir zur Zeit überflütet werden, vielleicht eine eigene Schrifthaftikgeit entsteht. Die Bilder beispielsweise, die in einer Fernsehnachrichten gezeigt werden, können kaum nach ihrer Referenz und unmittelbaren Weltbezug interpretiert werden, sondern bilden eine eigene Schrift, ein eigenes Bedeutungssystem, das nur  auf diese sinnvoll entzifferbar ist (in dem Serien von Nachrichten und Nachrichtenbildern sich gleichsam im Bewusstsein ablagern und Referenzhorizont bilden: als Fernsehnachrichtenbilder und nicht als Repräsentationen der Welt). Um auf das grosse Konkurrenzmedium der Soziologie zurückzugreifen, das ebenfalls auf Gesellschaft und das Verständnis ihrer selbst zurückgreift:  die Science Fiction. Es ist bemerkenswert, dass die zur Zeit aufwendigste und Aufsehen erregendste Science Fiction Serie, Star Gate, gerade aufgrund einer «Re-Ägyptisierung» der Gesellschaft beruht. Sie gründet in Roland Emmerichs gleichnamigen Film. Ein merkwürdiges torähnliches Gebilde wird im ägyptischen Wüstensand entdeckt, bestückt mit einer Reihe von Hieroglyphen, die indes unentzifferbar bleiben.  Einem jungen Ägyptologen gelingt es dennoch aufgrund einer neuen, unverfremdeten Blickweise auf die zeichenhaften Erscheinungen. Nunmehr öffnet sich das Tor zu einem Sternentor, nur mit einer dünnen Membranen verschlossen, das neue Horizonte im eigentlichen Sinne eröffnet, Reisen in die Zeit wie in andere Gesellschaften, ebenso bedrohlich wie faszinierend, und stets ist es das Element des Entzifferns von Bilderschriften, das den Weg weist: das Enträtseln unbekannter Bilderschriften bildet gleichsam die idée fixe dieser Serie.  Um diese  Vorstellung (unabhängig davon ob sie utopischen oder dystopischen Charakter besitzt) weiter zu entwickeln: in der Materialität der Bilder und Zeichen, in der Wahrnehmung des Durchdringens verschiedener Weltbezüge, des Frieshaften wie des ephemer elektronischen, des rein Bedeutungstragenden wie in der Lautschrift, ergibt sich auch eine Leseweise, die keinen einzelnen stabilen gleichsam archimedischen Punkt der Lektüre voraussetzt. Bilderschriften kommunizierten auf diese Weise gleichzeitig stets auf mehreren Ebenen, umreissen nicht mehr ein geschlossenes Territorium von Lektüre und Bedeutung, ein Territorium, das letztendlich auch einen Auschluss markierte. Materialität, Bildhaftigkeit, Semantik durchdrängen sich auf eine bestimmte andere Weise, es entstünde eine andere Schreib- und Leseweise der Welt in einer anderen Zeit, die nicht einem verschlossenen Buch gliche, das eine Schrift enthielt, die sich nur dem Schriftkundigen öffnen, sondern mehre durchdringende materiale Bedeutungsebene zugleich, die als Spektakel Gesellschaft bilden und genauso schnell wieder auflösen.[26]

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[24]  Diese Darstellstung folgt dem Artikel von Assmann.

[25]  Assmann, S. 147. Sperrdruck von mir.

[26] Wiederum sei hier auf die Ausführungen von Deleuze und Guattari zum nomadisierenden Subjekt verwiesen.