Lesen und Gesellschaft.  Von Frankenstein zu Star Gate

 

von Felix Keller


Bilder 2

Heuschreckenschwärme der Schrift

Die Triade Autor, Buch, Leser, ist eine sozio-historische Konstruktion; vermittelt über Schrift und Buchdruck  So banal dieser Satz auch klingen mag, die Konsequenzen dieser Einsicht sind aber alles andere als einfach, und äussern sich dann, wenn diese Konstruktion bedroht ist. Denn die Lektüre und Literatur sind nicht nur Ausdruck einer Gesellschaft, sie sind, wie gezeigt, auch selbst im höchsten Masse vergesellschaftend. Doch inwiefern ist der erwähnte Zusammenhang zwischen Lesen, Literatur und Schrift in mehrfachen Sinne ausschliesslich und einmalig? Die Klage über den Zerfall des Lesens als Ausdruck einer schwindenden Gesellschaftlichkeit, diese Klage und Befürchtung wiederholt sich, es ist müssig zu erwähnen, mit dem Auftauchen neuer Medien, mit dem Auftauchen neuer Praktiken des Entzifferns und Kreierens von Symbolzusämmenhangen wie zur Zeit mit den Neuen Medien. Die soziologische Perspektive, die ich hier vertreten will, besagt aber, dass dieses Bewusstseins einer Veränderung oder einer beinahe revolutionsähnlichen Transformation nicht in erster Linie technologieindiziert ist, sondern schon alleine in der Exklusivität des sozio-historischen Standortes der Idee des Lesens begründet ist, die das Lesen und die Literatur bereits dann bedroht erscheinen lassen, sobald die gesellschaftliche Basis dieses Zusammenhangs selbst zerbrochen ist. Der Verlust des Lesens und der Literatur ist nicht neu, er ist immer schon da gewesen, ist in der Genese gleichsam eingeschrieben und offenbart sich, sobald die Rahmenbedigungen, seien sie nun sozialer oder technologischer Art, nur minim ändern, und das schon seit einiger Zeit. Ein «vereidigter Bücherrevisor», nämlich Walter Benjamin, soll mein Zeuge sein. In dem besagten Abschnitt in der 1928  veröffentlichten «Einbahnstrasse»  sah Benjamin bereits alles darauf hin deuten [18] «...dass das Buch in dieser überkommenen Gestalt seinen Ende entgegengeht». Benjamin erkennt dies, indem das Medium der Literatur, die Schrift, ihre Schriftlichkeit, ihre grafische Sinnlichkeit zurückerhält, so etwa bei Mallarmé, so aber auch bei den Dadaisten. Es ist die brutale ökonomische Umgestaltung, die Warenfetischisierung kulturellen Güter, die das Buch als antiquiert erscheinen lässt: «Die Schrift, die im gedruckten Buche ein Asyl gefunden hatte, wo sie ihr autonomes Dasien führte, wird unerbittlich von Reklamen auf die Strasse hinausgezerrt und den brutalen Heterenomien des wirtschaftlichen Chaos unterstellt. Das ist der strenge Schulgang ihrer neuen Form.» Die Schrift stösst immer tiefer in den «graphischen Bereich ihrer neuen exzentrischen Bildlichkeit» vor. «Heuschreckenschwärme» neuer Zeichenformen fallen über die verwirrten grosststädtischen Geister her und  belassen sie in heilloser Verwirrung.

Damit hat Benjamin nichts anderes vorweggenommen, als das, was heute als Pictorial oder Iconic Turn diskutiert wird.[19] Dass mit den neuen Medien eine eigentliche Bilderflut einhergeht, ist bereits common sense. So spricht etwa Vilém Flusser von einer eigentlichen «Revolution der Bilder», eine euphorische Einschätzung wie eine kulturpessimistische, etwa in Pörksens «Weltmarkt der Bilder» sind entsprechend nicht weit. Interessanter ist indessen, auf welche Weise sich diese Aufmerksamkeit von dem Medium des Buches, der Literatur, der Schrift im intellektuellen Diskurs hin zu den Bildern gewandelt hat. Benjamin hat hierbei frühzeitig den Hinweis gegeben, dass es letztlich die Schrift, die auf einmal aus der Sprache hervortritt und ihre Bildlichkeit zurückerhält. Damit war bereits absehbar, ein neuer paradigmatischer Wechsel hervrortreten können, der die Schrift als «Kultur-« und Gesellschaftsmedium in einen ganz neuen Zusammenhang stellen würde, beispielsweise in Jacques Derridas Arbeiten über die Schrift. Die Schrift wird bei Derrida ganz klar von der gesprochenen Sprache getrennt: sie ist qualitativ etwas anderes, ein Phänomen, das selbst endlos neue Spuren legt, Differenzen zieht und Bedeutungen in einem fort relativiert. Die Schrift selbst erhält wieder ikonographischen Charakter und breitet sich über alles auf: überall ist Schrift und Zeichen, die Welt selbst wird zu einem Buch, dessen tieferen Sinn, wie in der Kabbala, verloren gegangen ist.  Nicht mehr nur das Weltbuch wartet auf seine Deutung, selbst der genetische Code braucht nun, wie Blumenberg erarbeitet, seine ganz speziellen Leser.

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[18] Benjamin, S. 40ff.

[19] Vgl. hier W.J.T. Mitchells einschlägige Arbeit.