Lesen und Gesellschaft.  Von Frankenstein zu Star Gate

 

von Felix Keller


Bücher 1

Frankenstein als Leser Goethes

Frankenstein liest Goethe: diese verblüffende Lektüre bildet eine Schlüsselszene in Mary Shelleys «neuem Prometheus». Das Lesen Goethes erschüttert das Monster. Er erkennt sich in Werther wieder und sieht sich dennoch von dessen Welt ausgeschlossen. Das Wesen Frankenstein, Ausdruck einer monströs gewordenen Technologie, entstanden aus der auftauchenden wissenschaftlichen Rationalität, ist fasziniert von einem zeitlosen literarischen Werks - und gerade dies führt in Shelleys Roman letztlich zum Desaster. Diese Konfrontation zwischen Ausgeburt einer nicht mehr fassbaren gesellschaftlichen Technik und zeitlosen Kulturwerten, die sich dieser Mechanik gleichsam entheben, steht sie vielleicht für ein fatales Verhältnis schlechthin? Das Lesen, so wie es in unserer Vorstellung aufgehoben ist, gilt als eine zurückgezogene, konzentrierte, einsame Tätigkeit, ist ein persönlicher, ja intimer Prozess, der eigentlich das Gesellschaftliche transzendiert und so die menschliche Subjektivität zu sich selbst kommen lässt. [1] Demgegenüber ist Gesellschaft gerade das, was Individualität überschreitet, auf Produktion, Technologie, Norm und Abweichung, Verbrechung und Normalität verweist, etwas, das in seiner Eigenlogik geradezu prädestiniert scheint, Monstrositäten wie Frankenstein zu gebären. Bilden das Lesen als kontemplative, ja meditative Tätigkeit und Gesellschaft in ihrer den Individuen äusserlichen Zwanghaftigkeit damit schlicht eine unheilvolle Polarität? Oder sind Lesen und Gesellschaft im Gegenteil so sehr ineinander verschränkt, dass mitnichten von zeitlosen kulturellen Wert gesprochen werden kann? Kehren wir zu Frankenstein zurück. Mary Shelleys Werk erweist sich als erstaunlich komplex, mehrere Erzählebenen sind eigentlich ineinander verschachelt, mehrere Stimmen kommen schaffen sich über eine andere Ausdruck. Zuallererst handelt es sich indessen um eine dazumals durchaus gängige literarische Form, nämlich um einen Briefroman; die Briefe sind verfasst von einem jungen, abenteuerlustigen Wissenschaftler, der sich im 18. Jahrhundert aufmacht, den Nordpol zu erforschen. In der Öde der Eiswüste nimmt die Besatzung einen verwirrten Menschen auf, am Rande seines physischen Zusammenbruchs, der alsbald von seinem Schicksal berichtet. Als junger erkenntnisbegieriger Wissenschafter, Frankenstein, hat er das Monster geschaffen, das er nun jagt. Ausführlich schildert der Wissenschaft seinen Weg und sein Ringen mit dem, was er mit seinem Wissensdrang geschaffen hat und nunmehr nicht mehr kontrollieren kann. Im Verlaufe dieses Suchens und der damit verbunden Wunsch wieder zu zerstören, was er erschaffen hat, begegnet er auch seinem monströsen Werk, das ihn zunächst zu nichts anderem zwingt als zuzuhören. Und nunmehr schildert das Monster Frankenstein seinen eigenen Leidensweg nach seiner Geburt; die Bewusstlosigkeit und sein Erschrecken gegenüber der Natur, die Verständnislosigkeit gegenüber der Gesellschaft der Menschen. Er sieht sie, und hält sie für seinesgleichen, muss aber ob seinem Spiegelbeld erschrecken, das ihn nur als Entstellung dessen zeigt, was er bewundert. Bei einer kleinen Waldhütte schlussendlich lässt er sich in seinem Suchen, was er ist und sein könnte nieder, und nimmt an dem Leben der verarmten Adelsfamilie teil, die dort haust. Wort um Wort versucht er zeu deuten zu erklären und schafft sich so langsam einen Wortschatz. Langsam beginnt er auch die Gespräche der in beständiger Not lebenden Leute zu verstehen, und hilft ihnen, ganz wie Prometheus, in dem er ihr Herdfeuer versorgt. Er lauscht den Gesprächen den Leuten und erfährt so mehr und mehr über über die Menschen, und langsam wird ihm auch der«sonderbare Aufbau der menschlichen Gesellschaft» bewusst: «Ich erfuhr von der Art, wie die Güter dieser Erde verteilt sind, erkannte das Nebeneinander von unermesslichem Reichtum und schmutzigster Armu, hörte von Rang und Würden, hoher Abkunft und adeligem Geblüt.» Diese Beobachtung allerdings lässt ihn immer noch als Fremden erscheinen, als jemand der ausserhalb der Gesellschaft steht, ihr, wie es einer Technologie gehört, gleichsam lautlos und unsichtbar dient. Doch für das Monster stellt sich unweigerlich und hartnäckig die Frage «Was war ich denn», berichtet es, «immer wieder stellte diese Frage sich ein - und immer wieder war die Antwort nichts denn ein Stöhnen.» Doch unversehens erlebt Frankenstein eine Katharsis, und diese hängt mit einem eigentümlichen Fund zusammen:

«In einer der Nächte nämlich, welche ich darauf verwendete, die benachbarten Waldungen zu durchstreifen, um meiner Nahrung sowie dem Sammeln von Feuerholz für meine Beschützer zu obliegen, fand ich auf dem Erdboden ein ledernes Portemanteau, einen Mantelsack, der neben etwelchen Kleidungsstücken auch mehrere Bücher enthielt. Voll Begier bemächtigte ich mich dieser Beute und elite damit zu meinem Unterschlupfe zurück. Zum grossen Glück war mein Fund in jener Sprache abgefasst, deren Grundbegriffe ich von meinen Gastgebern erlernt hatte. Solcher Wissensschatz umfasste das Verlorene Paradies, einen Band der Viten des Plutarch sowie die Leiden des jungen Werthers, und erfüllte micht mit dem grössten Entzücken. Von Stunde an studierte ich diese Texte ohne Unterlass und schärfte mir an ihnen den Geist, dieweil meine Freunde ihren gewohnten Beschäftigungen nachgingen.» [2]

Insbesondere die Figur des Werthers in einem der gefundenen Bücher faszinierte ihn: «sein Charakterbild war frei von jeder Anmassung und hinterliess in mir dennoch den unauslöschlichen Eindruck», so das Monster, und es erkannte in «Werthern ein weitaus göttlicheres Wesen, als ich bislang zu Gesicht bekommen oder mir auch nur vorgestellt hatte.» Obwohl Frankenstein betont, dass er ganz und gar nicht alle die Absichten und Einstellungen Werthers teile, wendete es, wie es seinem Kreator erzählt, «im Verlaufe solcher Lektüre (...) vieles von dem Gelesenen auf die Empfindungen und Umstände meiner eigenen Person an.» Doch diese Identifikation eines Monsters mit diesem zeitlosen Drama hat denn auch seine Grenzen, dort wo die Körperlichkeit beginnt: «So manches hatte ich ja mit Werthern und den Menschen seines Umganges gemein, und glich doch äusserlich in nichts den Geschöpfen, von denen ich da las». Diese Differenz zwischen Körperlichkeit und geistiger Identifikation zerreisst das Monster und selbst die Lösung, der Selbstmord wie Werther, wäre dennoch nicht ein gelungener Nachvollzug der geistigen Verwandtschaft: denn keiner wäre da, der seine «Austilgung beweint hätte, so abscheulich von Angesicht und riesenhaft von Gestalt ich war!» Hiermit hat das Monster Frankenstein nichts weniger als seine Identität gewonnen, auch wenn sie als solche gespalten, negativ ist: während sein Identität sich in der Wertesphäre eines literarischen Werkes, mittlerweile klassisch und zeitlos genannt, sich orientieren kann, verbietet die pure Materialität oder Monstrosität, die gelungene Identifikation: eine Spaltung, eine Unvollkommenheit ist die Folge. Das Einschreiben in die Ordnung der Herrensignifikanten gelingt nicht vollständig, es bleibt ein Riss, eine Spaltung hin zur Körperlichkeit, die keinen symbolischen Ausdruck findet. Diese Spaltung selbst ist nicht eine Naturgegebene, sie ist selbst eine technologisch indizierte, die Ausdruck einer bestimmten Technik, das fatale Produktoin maschineller Produktion und Organizität.

Mary Shelley wollte keine technologische Fiktion betreiben. Sie interessierte sich in ihrem Milieu um Lord Byron für die erwachenden Wissenschaften in der Zeit der sich sichernden Aufklärung, wovon die wissenschaftlichen Disputen in dem Roman Anlass gab. Aber das Monster Frankensteins, es war für sie nichts anderes als eine Möglichkeit um die Gesellschaft schildern zu können: «Mag er (das Monster) im Faktischen Körperlichen sich immerhin als ein Ding der Unmöglichkeit erweisen, so setzt er durch die Gewährung eines neuen Blickpunktes unsere Phantasie doch in den Stand, ein umfassenderes, eindrücklicheres Tableau der menschlichen Leidenschaften zu entwerfen als dies irgendeine der Alltäglichkeit, welche im hergebrachten Rahmen sich abspielen, je erlangen könnte».[3] Und Shelley schreibt denn ihren Roman in die Zeit eines gesellschaftlichen Umbruchs ein: Der junge Dr. Frankenstein verlässt zwecks Studienreisen seinen trauten Heimatort Genf, wo er eine Kindheit und Jugend aufgehoben in einer wohlmeinenden Gemeinschaft einer aufstrebenden Bürgerfamilie erlebt hat, und wendet sich im fernen Deutschland der Wissenschaft zu. Doch hier erlebt seine Kenntnis der neuesten Technologie, in Verbindung zu einer plötzlichen Rückwendung zu einer voraufklärerischen Theorie des Lebens eine fatale Möglichkeit, die ein Monster gebiert. Das Monster nun folgt Dr. Frankenstein in seine gemeinschaftliche Heimat zurück und zerstört diese, nachdem es sich, wie gesehen, nicht in die Welt hat integrieren können. Die Familie Frankenstein, die zuvor noch wohlmeinend andere, denen der Fuss fassende Kapitalismus nicht so wohlgesonnen war (nicht umsonst ist wohl das calvinistische Genf Drehpunkt der Handlungen), vor dem Untergang hat retten können, wird nun selbst vernichtet. Das Zerstören des Gemeinschaftlichen, in einem fatalen Zusammenhang von Wissenschaft und Kapitalismus, das die Leerstelle, welche die überwundene soziale Ordnung hinterlassen hat, nicht hat füllen können, bilden ein Spannungsfeld, wofür das Monster lediglich «Chiffre», Erzählinstanz ist. Denn es spricht im Roman nie direkt, obwohl die Stimme das suggerieren will, sondern gleich zweifach vermittelt, durch Erzähler des Schöpfers und des Briefeschreibers.

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[1] Vgl. hier die im gewissen Sinne repräsentative Auffassung Birkerts.:p>

[2] Shelley, S. 175f.:p>

[3] Shelley, S. 5.:p>