SZ-Artikel vom 24.02.2000

Das Gespenst des Humanismus

Vom Olymp herab an die Börse
– über die Zukunft der Pop-Kultur / Von Beat Wyss

Wenn es in diesem Jahrhundert ein Ereignis gab, dessen plötzliches Eintreten niemand erwartet hatte, war es der Fall des „Eisernen Vorhangs“. Dabei ist das Wort „Fall“ viel zu pathetisch für die Weise, wie alles plötzlich vorbei war: als hätte jemand einfach den Fernsehkanal gewechselt. Das prägendste Bild, das mir vom Ende der Moderne in Erinnerung bleiben wird, ist der erschossene Ceausescu, vom Hinrichtungstrupp festgehalten auf einem dilettantisch abgedrehten Video. so ungelenk lag der Conducator da am Boden, als wäre seine Erschießung von einem unerfahrenen Laientheater in einem Schrebergarten nachgestellt worden. Die obligate Pelzmütze war ihm in die Stirn gerutscht. Unvergesslich auch der vorletzte Akt im Leben des letzten tatsächlichen Märtyrers für die Sache der Volksbeglückung: Die Pelzmütze saß noch und Ceausescu stand auf dem Balkon des Regierungspalastes, als seine wie immer langfädige, floskelhafte Rede plötzlich von Sprechchören unterbrochen wurde. Als er für Minuten verstummte, verstummten auch die Sprechchöre, als hätten alle Anwesenden plötzlich verstanden,dass jetzt ein Bann gebrochen war, der durch keine Sonderpolizei mehr wieder hergestellt werden konnte. Lautlos wie Kartenhäuser huschten die politischen Systeme in Osteuropa vom Tisch. Nicht die löblichen Proteste der Bürgerrechtler brachten sie zu Fall, es war das Zeitalter des Politischen selbst, das sang- und klanglos verdampft ist. Stell dir vor, die machen Politik und keiner schaut hin.

Das Zeitalter des Politischen wurde entworfen von Humanisten, die Platons „Politeia“ für die Neuzeit wieder entdeckten: Niccolò Machiavelli von der praktischen, Thomas Morus von der utopischen Seite setzten die Maßstäbe für eine weltliche Kultur politischer Macht, deren Gültigkeit wir gegenwärtig verschwinden sehen. Der ideale Staat, in dem der König Philosoph war, beraten im Gespräch mit Philosophen, diente als Leitstern ganz unterschiedlichen Interessen: Er nobilitierte die Politik des Absolutismus, erregte die Gemüter von Frühsozialisten und Anarchisten und fand schließlich einen totalen Höhepunkt durch Hitler und Stalin. Das utopische Ziel des Politischen war die Beglückung der Menschheit durch eine Elite, die in ihrer Weisheit wusste, was gut ist fürs Volk. Kennzeichnend ist das oft groteske Übergewicht von Idealen über die ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Die Führer hatten ein magisches Vertrauen auf die Wirkkraft des Wortes. Den Künsten wurde ein hoher Wert zugeschrieben als Mittel politischer Überzeugung, Überredung und Beschönigung der Verhältnisse. Daher mussten Kunst und Literatur, im Einklang mit Platons Empfehlung, kontrolliert werden durch Philosophenkönige, die die Legitimität ihrer Macht durch eben diese Künste zu untermauern pflegten.

Der Traum des Konsumenten

Den Humanismus als Wurzel des politischen Zeitalters hebe ich hier besonders hervor, da Peter Sloterdijk kürzlich jenen zur Disposition gestellt hat – im Habitus des humanistischen Intellektuellen. Seine umstrittene Rede über die „Regeln für den Menschenpark“ zieht die Register des Königsphilosophen. Nicht anders verstanden sich die gelehrten Ratgeber zu Hof: Als Stichwortgeber der Fürsten beschäftigten sie sich in deren Auftrag mit Naturphilosophie, die das Schicksal der Gesellschaft berechenbar und planbar zu machen versprach. Ihre Mittel – Alchemie und Sterndeutung – mögen für uns heute lächerlich und wirkungslos erscheinen. Ich weiß nicht, ob künftige Generationen unsere Hochschätzung der Gentechnologie nicht ähnlich einstufen werden. Als Historiker kann ich nur zurück blicken und sehen, dass jedes Übermaß an Planung nicht Paradiese, sondern Zauberlehrlinge hervor brachte.

„Humanismus“ ist ein intellektueller Habitus gegenüber der Macht und nicht nur ein Kanon verbindlicher Schriften. Nietzsches Hohn betraf eine Schrumpfform von Kathedergelehrsamkeit: unsägliche Erinnerungen an die Gymnasialzeit in Schulpforta, wo die dithyrambische Tragik des Griechentums über dem Büffeln unregelmäßiger Verben verdampfte. Herrschaftswissen, das sich darauf beschränkt, die ersten Verszeilen der Odyssee ex tempore skandieren zu können, gibt es heute nicht einmal mehr in der Karikatur.

Die Krise des humanistischen Gesellschaftsideals zieht sich durch die Moderne, seit der Philosophenkönig, umgeben von Königsphilosophen, Konkurrenz erhielt. In der Aufklärung entwickelte sich die Idee, dass die Gesellschaft nicht durch weise Staatslenkung, sondern durch Selbstregulierung des Markts und freie Individuen verbessert würde. Die Utopie der Freiheit wurde zwar in Europa geboren, musste aber schon kurz nach der Französischen Revolution in die Vereinigten Staaten emigrieren, weil im alten Europa mit den alten Verhältnissen die alte Utopie des weisen Staatslenkers gültig blieb, mehr oder weniger gründlich bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Freiheit wird nicht von der Politik gelenkt, sondern von der Ökonomie. Politiker sind in diesem System die Prügelknaben für Besorgnis erregende Statistiken und fallende Gewinnkurven, deren Ausschläge unvorhersehbar ihre Tagesform ändern. Es ist nicht die Unfähigkeit der Politiker, die diese so windig erscheinen lässt, sondern die Tatsache, dass sie auftreten, als würdene ihre Reden die gesellschaftlichen Verhältnisse maßgeblich beeinflussen. In einem gewissen Sinne gleichen sie alle ein wenig Herrn Ceausescu auf dem Balkon. Der freie Markt braucht keine großen Worte, keine großen Gebärden – seine Überzeugungskraft steckt in den Waren, dem Stoff, aus dem die Träume der Konsumenten gemacht ist.

Die „organischen Intellektuellen“, wie Antonio Gramsci die kulturellen und politischen Eliten treffend bezeichnete, hatten eine Langzeitbindung an die herrschenden Kreise der Gesellschaft. Es wundert daher nicht, dass sie noch zur letzten Jahrhundertwende mehrheitlich ambivalent bis ablehnend der Demokratie gegenüber standen – jenem „Glück der Mücke“ nach Rilke, das, nach Nietzsche, mit „Sklavenmoral“ gesäuert sei. Unter den Stimmen, die heute wieder nach Eliten rufen, gibt es solche, die ebenso laut deren Bündnis mit der Macht in jungen Jahren angeprangert hatten: André Glucksmann in seinen „Meisterdenkern“, Peter Sloterdijk in der „Kritik der zynischen Vernunft“. Wenn es um die Elitenrolle geht, beziehen sich die Intellektuellen der 68er-Generation gerne auf Macchiavelli – wobei sie vergessen, wie schlecht er von den Medici behandelt worden war. Die wirklich Mächtigen mögen es nicht, wenn Schriftsteller zur Theorie erheben, was sie als Gewohnheitsrecht schon längst praktizieren.

Da sind wir bei der These: Die Rolle der Elite wurde im Verlauf der Moderne überholt. Die Intellektuellen kamen immer zu spät, wenn sie zum „Diskurs“ erhoben, was in Politik, Ökonomie und Wissenschaft schon zur Tagesordnung gehörte. Goethe liefert das Paradebeispiel: Dass die Physiker seiner Zeit die „Farbenlehre“ zurückwiesen, worin der Dichter die bereits hundert Jahre gültige Spektraltheorie Isaak Newtons bekämpfte, konnte er nicht verwinden. Ein halbes Leben lang haderte er in einer Mischung von enttäuschter Rechthaberei und Inkompetenz, die es nur auf dem Feld sprachlicher Übermacht mit seinen Gegnern aufnehmen konnte.

Die literarischen Zeitgenossen des Turms, der nach seinem Ingenieur Alexandre Gustave Eiffel benannt ist, ließen sich mit der Kutsche so durch Paris fahren, dass er außer Sicht blieb. Er stand dreißig Jahre, als er endlich doch von der Avantgarde zum Fanal künstlerischer Bestrebungen erklärt wurde. Verspätung kennzeichnet das Verhältnis der Intellektuellen zur Technik: Jede Erfindung macht ihnen schmerzlich bewusst, dass da schon wieder etwas auf den Markt kommt, an das sie nicht gedacht haben.

Das humanistische Modell der Meisterdenker ist nicht nur zurückzuweisen, weil es in der Vergangenheit zur Komplizenschaft mit totalitären Systemen kam, sondern schlicht weil es überholt ist. Die Eliten arbeiten zu langsam. Ihre Rolle war dem beharrenden Leben am Hof von Fürsten gemäß, deren Denken sich in den Bahnen von Landbesitz, Grundrente und kluger Familienplanung bewegt hatte. Die technologische Entwicklung heute ist zu unberechenbar und überraschend, als dass sie eines Rates der Weisen bedürfte. Die Revolution der neuen Medien wurde im Hinterhof bastelnder Computercracks ausgeheckt. Die technischen und ökonomischen Impulse sind so wenig kontrollierbar wie Zyklone, die auftreten, sich austoben und versiegen über dem Meer des Möglichen. Der Elite, dem Epimetheus des Fortschritts, bleibt das Nachsehen, den Ergebnissen hinterher zu denken.

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag das europäische System nationaler Eliten der Politik in Trümmern. Es gab natürlich Widerstände gegen die kulturelle Kolonisierung durch die Siegermacht der Vereinigten Staaten, doch, kompromittiert vom Mitmachen und vom Vorbeisehen am Rassenwahn der Nazis, mussten die Bürger die neuen Messages Zähne knirschend hinnehmen. Der Kaugummi des lässigen, lachenden und vielleicht gar schwarzen GI’s brachte die ausgemergelte deutsche Jugend auf den Geschmack. Der Rock’n’Roll war der Bote einer Globalisierung, dem der humanistische Kanon mit seinem christlich-eurozentrischen Weltbild nur die guten alten Knickerbockers für die Jungs und die gerüschten Küchenschürzen für die Mädels entgegen halten konnte. „Gaudeamus igitur“ und „Heideröslein“ waren ausgesungen.

Bestand die humanistische Bildung in einem Gut, das über den Nürnberger Trichter dämmriger Gymnasien von oben nach unten eingepaukt wurde, war Pop eine klare Sache, die von unten hochgespült kam, die alle sogleich mochten und alle auch kaufen konnten. Fast alle: Natürlich waren die Intellektuellen zunächst dagegen. Was sie nicht alles erfanden, um dieser Springflut von jenseits des Atlantiks zu begegnen: Existentialismus, Neomarxismus, Negative Dialektik – es nützte nichts.

In den späten 70er Jahren bildete sich eine jüngere Generation von Intellektuellen heraus, die sich mit Pop arrangieren konnten. Ihre Methode war ein kluger Mix aus Kritischer Theorie, Strukturalismus und Phänomenologie. Mit Walter Benjamin teilte man das Interesse für den Kulturmüll; wie man diesen semiotisch korrekt trennte und las, lehrte Roland Barthes, während Merleau-Ponty dazu verleitete, diese geistige Veranstaltung sinnlich entspannt zu genießen – vielleicht bei einem jener exotischen Spaghettigerichte, die damals die studentischen Wohngemeinschaften mit dem Duft des Knoblauchs zu markieren begannen.

Kunst und Geld

Die Pop-Kultur eröffnete eine neue Sichtweise auf die Welt: den flachen Blick von unten. Hatten die humanistischen Eliten in Freimaurerlogen, Akademien und Politbüros gethront, ist der Platz der Künstler und Intellektuellen heute mitten im Basar der Waren, Moden und Meinungen. Die alten Geheimbünde sind durch offen auftretende Subkulturen ersetzt worden. Ihre verwirrende Vielfalt ist unserem Zeitalter gemäß: Besser herrscht transparente Unübersichtlichkeit als jene vornehme Verschwiegenheit der diskreten Gesellschaft. Es gibt ja durchaus Bestrebungen, das System von Eliten zu restaurieren. In den Leerraum abgewickelter Politik mit ihrem Parteienklüngel könnten esoterische Bünde nachstoßen. Die Bewegung der Falun Gong und Scientology erkenne ich als den Versuch, die globale Marktwirtschaft durch Sekten und Mafien zu unterwandern. Es wird eine Aufgabe des kommenden Jahrhunderts sein, dass dies verhindert wird. Die Informationsgesellschaft muss das Ideal der Transparenz und der ideologischen Neutralität aufrecht erhalten. Ein neues Elitemodell führte nicht nur in byzantinische Erstarrung, sondern förderte einen Hybrid-Calvinismus, der den Reichen ihren Reichtum als Gnade und die Armut der Armen als gerechte Strafe Gottes auslegte.

Wenn schon das Ökonomische herrschen soll, dann in seiner ganzen Nüchternheit und Umsicht. Aufgabe der Neuzeit und Moderne war es gewesen, das Politische zu kultivieren. Jetzt geht es darum, das Geld zu zivilisieren. Auf Kaiser Vespasian geht der Satz zurück, dass Geld nicht stinkt. Eine üble Eigenschaft, sofern sie die unappetitliche Weise seiner Vermehrung verschleiert. Doch es steckt auch Tugend darin: Das Geld stinkt nicht, weil es als allgemeinster Tauschwert neutral ist und sich in alle Werte verwandeln lässt. Geld ist Information in abstraktester Wirkungsform. Als Leitwährung für alles gesellschaftliche Handeln bürgt es für die Universalität des Tauschens. Es ist daher der höchste Kommunikationswert. Von dieser Seite hat die Pop-Kultur sich des Geldes angenommen. Für Warhol war Geld die herausragende Inspirationsquelle. Nicht nur, dass er Dollarscheine porträtierte; er hatte erkannt, dass ein Siebdruck eine vergleichbare Wertschöpfung in Gang setzt wie eine Notenbankpresse.

Die Gleichsetzung von Ästhetik und Ökonomik der Kunst geht einher mit dem Ende des bürgerlichen Kunstbegriffs: eine komplexe Entwicklung, die mit Marcel Duchamp einen ersten markanten Durchbruch erzielte und über einige Umwege und Gegenmanöver schließlich um 1960 ihren Abschluss fand. Nennen wir Kunst im bürgerlichen Verständnis das „Kunst-Werk“: Es lobt den Meister dank seiner gediegenen Fertigung. Erzeugt wurde das Kunst-Werk vom Genie eines Autors, pathetisch ausgedrückt: von dessen „Schöpfer“, was das Demiurgisch-Gottähnliche solchen Kunstverstandes hervorhebt. Der Wert eines Kunst-Werks steckte zutiefst in ihm selber und war voller Geheimnisse, Schönheiten und Belehrungen, deren Kenntnis durch geduldiges, andächtiges Befragen erhellt wurde. Ein Kunstwerk war ein Original, ein unerschöpflicher Schatz an raunender Weisheit, zu dem die Schulklassen, feiertäglich gescheitelt, ins Museum pilgerten.

Um beim Geldvergleich zu bleiben: Ein Kunst-Werk ist ein Goldstück, dessen Wert, von einem Autor aufgeprägt, durch Kenner zu entziffern war. Seit 1960 ist das nicht mehr so: Kunst hat die Wertform einer gut lesbaren Banknote angenommen. Das Atelier eines Künstlers wirkt als Notenbank, das Anteilscheine für eine bestimmte ästhetische Idee ausgibt. Jeder künstlerische Akt strebt nicht mehr nach dem originalen Solitär, sondern nach der Serie, nach der größtmöglichen Wiederholung. Erfolgreich sind Ideen, die sich inflationär verbreiten lassen. Adressat ist ein Massenpublikum, eine tief schürfende Hermeneutik durch Kunstvermittler ist unnötig. Die Betrachterinnen und Betrachter können sich an der Anmutung der Aktion – sagen wir: der Verhüllung des Berliner Reichstags – erfreuen. Hinter diesem „Werk“ steckt tatsächlich nichts als der Reichstag, der verhüllt ist. Wer es genauer wissen will, orientiert sich via Internet über das künstlerische Verfahren: die Anzahl der technischen Mitarbeiter, die Quadratmeterzahl der Stoffbahnen sowie deren Materialbeschaffenheit und so weiter. Die Arbeitsweise von Christo zeigt zugleich, dass künstlerische Akte nicht mehr von „Schöpfern“, sondern von Regisseuren hervorgebracht werden. Der Künstler gibt Wahrnehmungsanweisungen an das Publikum. Dass ja keine Werkhaftigkeit an seinen Händen kleben bleibe! Ein Star der Kunstszene pflegt die Ausführung seiner Ansichtssachen an Assistenten zu delegieren.

Einige Regeln zum Mitmachen

1. Das Andere als Kontext

Ich kann mir nicht vorstellen, dass durch Züchtung bessere Menschen erzielt werden. Planung bewirkt Verarmung der Vielfalt, wie alle Monokultur bisher zeigt. Nach meiner Laienansicht erzeugt Zucht die Inzucht. Nun, ich bin nicht kompetent in Biogenetik, ich kann nur von der Kunst sprechen. Hier wären Regeln und Normen der Ruin jeder Kreativität. Wenn in der Kunst etwas gehütet werden muss, dann gewiss kein vorbedachter Plan. Die Künstler sind Hüter des Zufalls, diesem Prinzip des Werdens.

Musikclips von MTV geben einen guten Überblick über die Art, wie Menschen sich gebärden und aussehen können: dicke, dünne, lange und kurze, in Schwarz, Weiß, Gelb, Rot und Cross Over. Das Showgeschäft kultiviert geradezu die Palette der Rassen und die Abweichung von der Norm. Ist eine Figur besonders schön, dann überschlägt sie sich bestimmt in launiger Weise zur Karikatur des Normalen. Pop folgt dem Gesetz der Mode: dem stetigen Überreizen der Regel. Kunst und Mode brauchen das angeblich Hässliche und Skurrile als produktive Kraft, die Trägheit gewöhnlicher Geschmackserwartung immer wieder zu durchbrechen. So wenig Langzeitprognosen für die Börse zu machen sind, so wenig für Kunst und Mode. Ein Produktionsgesetz gilt für beide: Jede Neuheit besteht im Überbieten oder Unterbieten der bestehenden Verfahren und Formen im Angebot, im Ein- oder Ausschluss von bestehenden Produktionsgruppen und Geschmacksströmungen.

Die Pop-Kultur frönt dem Mythos der Differenz. Man spielt den Anderen und richtet sich dabei an die Andern. Exotismus ist das Salz des Kunstmarkts. Pop bietet Folklore im Weltmaßstab. Ihre Akteure wohnen zwar alle in Metropolen, kommen in Kunstform jedoch aus einer Scheinheimat, deren Klischees und Projektionen sie ironisch bedienen.

2. Das System künstlicher Regionalisierung

Je globaler die ökonomische und technische Vernetzung, desto regionaler wird die Kunst. „Regional“ jedoch nicht im Sinne naiver Suche nach dem Seinigen, im Gegenteil: Pop stellt Identität her durch Inszenierung von Differenz. Sie weckt die Sehnsucht nach Andersheit, worin wir uns alle gleich sind.

Eine kulturwissenschaftliche Studie, welche die imaginäre Topografie der Ethnofolklore beschreibt, steht noch aus. Diese Kunstkontinente, -regionen und -dialekte sind im steten Fluss, ein höchst angesagter Mix ist noch immer Asian Pop aus Japan: Multimedia-Kunst in der Mischung von High-Tech, Konzeptschrift und Sado-Maso. Ein Dauerbrenner ist das Black Native American Label im Musikclip vom Typ versiffte Stadtkulisse und Rhythmen durchtrainierter Härte. Wieder im Kommen, wenn auch harmlos, sind die Farben der Sandmalerei und die Höhlenstrichmännchen der australischen Aborigines, die sich nicht nur auf Leinwand, sondern auch auf Teppich, Bettwäsche und Lampenschirm gut machen. Etwas schwerer tun sich die Versuche afrikanischer Künstler, die einheimische Traditionen des Schamanismus im Sinne von Joseph Beuys umdeuten. Etwas ausgereizt ist auch die Strategie zentralamerikanischer Künstler, die naive Anmutung von Ex-Voto-Bildern und figürlichen Ladenschildern mit dem Surrealismus Frida Kahlos zu verknüpfen. Dennoch: Die allgemeine Tendenz an der Kunstbörse – ganz im Rahmen politischer Korrektheit, denn in Pop steckt mehr Moral, als offen eingestanden! – geht zu Gunsten der ehemaligen Randgebiete des Globus. Hier sind Neuheitswerte relativ kostengünstig zu realisieren. Kunst eines DAAD-Stipendiaten aus Kuala Lumpur verleiht der Lobby einer Bank den Anstrich eines global denkenden Unternehmens.

Die Kunst aus Europa und Nordamerika, bis in die siebziger Jahre unbestritten in Führung, steckt in einer Absatzkrise. Hier hat das Dogma von der einen und unteilbaren Kunst in die Sackgasse geführt. Es gibt keine Kunstmetropole mehr, wo Päpste und Gegenpäpste von Stilen, Moden und Meinungen ihre Edikte an die Kulturprovinzen ergehen ließen. New York, das nach dem Zweiten Weltkrieg Paris ablöste, muss seinen Anspruch mit Los Angeles und Hongkong teilen sowie mit kunsttouristischen Wechselschauplätzen wie Prag, Berlin, Bilbao und überall, wo gerade ein neues Museum eröffnet wird.

Europäische Künstlerinnen und Künstler müssen im Sinne künstlicher Regionalisierung umdenken und sei es nur, um an der nächsten Biennale Venedig wieder mehr Einschalttreffer zu erzielen. Die Deutschen stehen gar nicht so schlecht da; sie haben, anders als etwa die Franzosen, ein Gespür fürs Regionale. Eines ihrer Trade-Marks, neben dem Kunstkalauer, ist das Expressive, Grobe. Allerdings kann es an die ethischen Grenzen des Geschmacks gehen, wenn mit der Erinnerung an die Nazizeit als ästhetischem Label gewuchert wird.

3. Uneigentlicher Gebrauch von Technik und Material

In der alten Kunst waren die technischen Verfahren Mittel zum Zweck. Bildhauerische Techniken und Kniffe, Methoden der Farbmischung waren bestgehütetes Geheimnis der Meisterwerkstatt und hatten für die Aussage selbst nichts zu bedeuten. Es ging um die Erscheinung von Inhalten, die das Werk auszustrahlen hatte; Allenfalls stellte die Sichtbarkeit des Verfahrens den virtuosen Umgang des Schöpfers mit seinen technischen Mitteln unter Beweis. Im Pop-Zeitalter jedoch wird das Verfahren selbst zum Inhalt der Kunst – nach Marshall McLuhans allbekanntem Satz: „Das Medium ist die Botschaft“. Am Kunstfoto interessiert nicht das Dargestellte, sondern die körnige Struktur; am Kunstvideo der Flimmereffekt und die kontingenten Verwischungen; am digitalen Bild der Reiz des Unwahrscheinlichen in der naturgetreuen Simulation.

Alle künstlerischen Verfahren im Pop-Zeitalter lassen sich auf einen Nenner bringen: Kunstproduktion besteht im uneigentlichen Gebrauch von Technologie. Künstler sind Anwender von Material, das nicht für die Kunst erfunden wurde. Autolack, von Jackson Pollock auf Leinwand getropft, erzeugt das, was John Dewey „Eine Erfahrung“ nennt. Während wir in der gewöhnlichen Wahrnehmung pausenlos von Signalen umtost werden, aus denen wir die uns nützlichen Informationen herausfiltern müssen, wird in der Wahrnehmung von Kunst diese Überfülle verlangsamt, verfremdet oder ganz stillgelegt. Ästhetische Erfahrung kommt durch eine Verknappung der Sinnenreize zu Stande. Das Anhalten von Wahrnehmung gibt uns Aufschluss über die Natur des Wahrnehmens. Ihres instrumentellen Zwecks entkleidet, werden Zeichen als Zeichen erkennbar und prüfbar in ihrer Wirkung auf uns. Das Ethos der Kunst im Pop-Zeitalter besteht in der Unterbrechung von Praxis, dieser Bedingung der Möglichkeit nachzudenken.

4. Sportliche Ökonomie: ein Künstlerleben

Picassos Werkmonografie liest sich noch wie ein stilistischer Entwicklungsroman. In herkulischer Anstrengung rang der Künstler mit dem Naturalismus, dem Symbolismus, dem Kubismus, dem Surrealismus und stellte damit die Zeugungsgewalt des Schöpfers unter Beweis. Zusammen mit dem bürgerlichen Kunst-Werk ging es auch mit dem heroischen Künstlerleben zu Ende. Man schneidet sich kein Ohr ab, um sich im Kunstbetrieb einzufädeln. Es gilt, ökonomisch zu verfahren.Ein wichtiger Ratschlag an junge Künstlerinnen und Künstler: Bitte nur ein Verfahren pro Karriere einreichen! Der Berufsstand ist durch den nie versiegenden Bedarf an Neuheiten so inflationär angewachsen, dass sich die Einzelnen darauf beschränken sollten, in diesem Gewimmel eine gut erkennbare Trade-Mark zu setzen. Eine heterogene Kunstproduktion verunklärt die Marktchancen. Die jungen Künstlerinnen und Künstler setzen ihren Chip im Roulette des Kunstbetriebs. Ein erzielter Treffer sollte sofort eingefahren, weitere Würfe vermieden werden. Nach gehabtem Erfolg bleibt nichts anderes übrig, als mit dem einschlägigen Verfahren gut zu altern.

Kultursoziologisch haben Sportler und Künstler einiges gemeinsam. Sie müssen jung sein. Für das Spiel an der Kunstbörse braucht es Leute mit einem überraschenden Blick auf die Welt, wie sie jetzt sich ihnen bietet. Lebenserfahrung und zu viel technische Könnerschaft wirken störend; sie immunisieren das vorbehaltlose Wahrnehmen gegen Überraschungen. Wie bei einem Sportler ist die Aktualitätsspanne von Künstlern recht kurz und wird überholt von neuen Leistungen, neuen Überraschungen. Das heißt nicht, dass Künstler im Gespräch bleiben, gewissermaßen in der Backlist der Museen. Dazu müssen sie, zusammen mit ihren Galeristen, ihren Künstlergruppen, durch umsichtig geplante Aktionen öffentliche Aufmerksamkeit dauerhaft hoch halten für ihre einmal gesetzte Idee. Sie verkaufen nicht mehr eine Neuheit, sondern deren Wiedererkennungswert. Die großen Meister der Nachmoderne haben diese Ästhetik der Redundanz bravourös vorgelebt. Wer denkt nicht bei einer Campbell-Suppendose an Andy Warhol, wer nicht bei einem verhüllten Baugerüst an Christo. Meister aller Klassen ist auch hier Marcel Duchamp, dem es gelungen ist, dass jeder einigermaßen kunstinteressierte Mann beim Pinkeln in öffentlicher Toilette an ihn denkt.

Die vielleicht wichtigste gesellschaftliche Eigenschaft von Kunst und Sport ist die Aufstiegschance aus dem Nichts. Kunst im Pop-Zeitalter braucht kreativen Instinkt, aber keine akademische Bildung. Pop ist das Glücksrad der Unterschichten und nährt in unserem nun schon über 200 Jahre alten Kapitalismus den jung gebliebenen Traum, dass man es vielleicht vom Anstreicher zum Millionär bringt. Jedes erfolgreiche Stück Pop-Kunst liefert den Beweis, dass wir alle gleich sind vor der Verheißung, es gäbe einen Weg nach oben für alle. Man muss ihn nur finden.

Beat Wyss lehrt Kunstgeschichte an der Universität Stuttgart.

© 2000 Süddeutsche Zeitung GmbH / SV online GmbH