Sprechende Bilder: Illustrierte Flugblätter im 17. Jahrhundert

von Silvia Serena Tschopp

 

<Abstract>

Das Bild erhält im Gefolge des gesteigerten Nachrichtenwesens (Infotainment und News rund um die Uhr) als Informationsträger immer mehr Bedeutung und übernimmt Funktionen, die früher allein der Schrift überlassen waren. Dies hat Folgen für die Schrift, die in ihrem Wirkungsbereich durch die Visualisierung beschränkt wird; aber auch für das Bild, das nicht mehr blosse Illustration sein kann, sondern Bestandteil der Information wird. Einer Information freilich, die dem Bild erst entnommen werden muss, mit der Gefahr des Missverständnisses. Als Problem dabei stellt sich, dass wir uns an eine einigermassen verbindliche Sprachgrammatik gewöhnt haben und mit dieser einigermassen zweifelsfrei umgehen können, eine verbindliche Bildergrammatik dagegen, die uns das Lesen von Bildern ermöglicht, bislang nur in Ansätzen eingeübt ist.
Dieses so neuartig scheinende Problem ist indes alt. Schrift und Bild standen schon früher in engem Kontakt, wenn es um die Vermittlung von Nachrichten ging. Als exemplarisches Beispiel dafür mag die barocke Bildpublizistik gelten, die in Form von Flugblättern und -schriften hohe Verbreitung fand. Insbesondere die Zeit der Reformation und Gegenreformation haben zu einer eigentlichen Inflation an solchen Produkten geführt.

Schrift und Bild stehen darin in engem Verhältnis zueinander, wie das Beispiel des Flugblattes „Der Jüdische Kipper und Auffwechsler“ zu zeigen vermag.
Mittels allegorischer Bildzeichen, denen verdeutlichende Stichworte beigegeben sind, wird ein Sachverhalt bildlich wiedergegeben, der im unten anschliessenden Textteil verdeutlicht wird. Wichtig dabei ist, dass die Bildzeichen in ihrer Bedeutung bzw. ihrer Variabilität bekannt sind: avaritia = der Geiz als allegorische Figur mit losen Kleidern und lockeren Sitten; justitia = die Gerechtigkeit mit Waage und sicherem Stand.
Um diese Bildpublizistik zu verstehen, bedarf es der Kenntnis dieser Zeichen, die ihrerseits mehr oder weniger normiert sind und in eng gesetzten Grenzen variiert werden. Gut und schlecht, gottgefällig und teuflisch sind auseinander zu halten. Einige dieser Zeichen sind in ihrem Bedeutungsgehalt bis heute verständlich, andere dagegen haben sich verdunkelt: etwa der Krebsgang, der in der frühneuzeitlichen Bildpublizistik für eine Rückwärtsbewegung steht.

Dennoch bleibt die auffällige Tatsache, dass die Argumentation mit Bildern eine lange Tradition besitzt. Daraus lassen sich einige Thesen ableiten, die zumindest Ansatzpunkt sein können für eine Diskussion unter modernem Blickwinkel - voreiligen Klagen entgegenwirkend.    (bm)

Thesen

- Bilder bilden ein eigenständiges Zeichensystem, sie sind nicht nur illustrierende Beilagen zu einem Text, sondern beinhalten eine Botschaft, die sich auch unabhängig von einem unmittelbar damit verbundenen Text konstituieren kann.
- Bilder sind in noch höherem Masse als verbale Zeichen durch Mehrdeutigkeit gekennzeichnet. Der Deutungsspielraum wird allerdings begrenzt durch ikonographische Traditionen, welche spezifischen Visualisierungsmustern spezifische Bedeutungen zuordnen.
- Ein „adäquates“ Verständnis von Bildern setzt voraus, dass sowohl der Bildproduzent als auch der Bildrezipient über dasselbe ikonographische Wissen verfügen. Es bedarf von Seiten des Betrachters einer mehr oder weniger entwickelten „Bildlesekompetenz“, es bedarf der Beherrschung der Codes, mit deren Hilfe Bilder sich entschlüsseln lassen.
- Bilder können auf eine Vielzahl - nicht nur ikonographischer - Traditionen rekurrieren, die sie auf bisweilen hochkomplexe Weise zu einem argumentativen Netz verknüpfen. Damit sind sie Teil des individuellen und kollektiven Gedächtnisses. Sie bleiben jederzeit abrufbar, können in unveränderter Form ins Bewusstsein geholt oder aber aktualisiert werden.
- Bilder nutzen den zeitgenössischen kulturellen Horizont auf umfassende Weise und besitzen so nicht nur eine diachrone, sondern auch eine synchrone Dimension. Sie können retrospektiv nur richtig eingeordnet werden, wenn es gelingt, den jeweiligen Kontext zu rekonstruieren.
- Bilder sprechen die Sinne stärker an als sprachliche Zeichen. Sie schliessen eine rationale Perzeption keinesfalls aus, verleiten jedoch in der Regel zu einem affektiven Zugang zum Dargestellten als dies Worte tun.
- Bilder sind in der Regel weniger präzise als Worte, sie sind dafür sehr ökonomisch. Auf kleinem Raum können sie äusserst komplexe Aussagen zur Darstellung bringen, Aussagen, welche in Worte gefasst ein Vielfaches des Raumes, den eine Graphik in Anspruch nimmt, benötigten.
- Bilder bilden zwar ein eigenständiges Zeichensystem, sie sind jedoch nicht absolut autonom. Sie bleiben verbunden mit dem Wissenssystem, dem sie angehören, berühren sich mit unterschiedlichsten kulturellen Manifestationen. Wer einen kulturellen Zusammenhang nicht kennt, wird die Bilder, die er hervorbringt, nicht richtig verstehen können.